Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 16.09.2022 15:30

Krieg, Krisen, Kunst

<b>Die Holzskulptur &quot;Inbetween I&quot;</b> von Martin Lehmer, im Hintergrund &quot;Horizonte 85 x 140/! von Andrea Sandner.  (Fotos: Berndt Herrmann)
Die Holzskulptur "Inbetween I" von Martin Lehmer, im Hintergrund "Horizonte 85 x 140/! von Andrea Sandner. (Fotos: Berndt Herrmann)
Die Holzskulptur "Inbetween I" von Martin Lehmer, im Hintergrund "Horizonte 85 x 140/! von Andrea Sandner. (Fotos: Berndt Herrmann)
Die Holzskulptur "Inbetween I" von Martin Lehmer, im Hintergrund "Horizonte 85 x 140/! von Andrea Sandner. (Fotos: Berndt Herrmann)
Die Holzskulptur "Inbetween I" von Martin Lehmer, im Hintergrund "Horizonte 85 x 140/! von Andrea Sandner. (Fotos: Berndt Herrmann)

„Die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst“, definierte Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Analog könnte man formulieren: „Die Literatur ist ihre Zeit in Geschichten gefasst“. Oder: „Die Kunst ist ihre Zeit in Bildern, Skulpturen und Installationen gefasst.“ Die gegenwärtige Zeit, vor allem die sich überlagernden und gegenseitig verstärkenden Krisen, ist in der aktuellen Ausstellung zum Aichacher Kunstpreis so präsent wie selten zuvor. Das war erwartbar, ist aber nicht unproblematisch, verliert doch jede Kunst in der Reduzierung auf das bloß Politische oder Soziale ihre mehrdimensionale Pluralität, also das, was sie zur Kunst macht. Was heißt das also für den Kunstpreis 2022?
Das heißt zunächst, dass es sich um eine thematisch wie stilistisch und technisch äußerst vielfältige, breit aufgestellte Ausstellung handelt. Denn natürlich ist auch die 29. Auflage des Kunstpreises keine kuratierte, thematische Ausstellung. Gleichzeitig lassen sich Tendenzen feststellen, inhaltliche wie andere. Sie sind sozusagen der Geist der Zeit, der sich in den Arbeiten, aber auch in der Auswahl der Jury niederschlägt.

So gibt es etwa einen Schwerpunkt bei der gegenständlichen, technisch zum Teil sehr anspruchsvollen Malerei. Viele Arbeiten bewegen sich im Spannungsfeld zwischenmenschlicher Beziehungen und Konflikte. Und da sind jene, die, so deutlich wie nie in den vergangenen Jahren, politisch und soziale Themen aufgreifen. Diese Linie, ob von der Jury intendiert oder nicht, sehen auch die beiden Kunstvereins-Vorsitzenden Werner Plöckl und Jakob Steinberger.
Tatsächlich beziehen sich Arbeiten wie "Gamechanger" von Andreij Herzog - eine riesige Friedenstaube auf einem Gasbehälter -, oder „Bei uns ganz in der Nähe ist jetzt Krieg“ von Stephanie von Hoyos direkt auf den Ukraine-Krieg – auf den ersten Blick vielleicht etwas zu plakativ, auf den zweiten aber doch differenzierter. Krieg und Flüchtlingskrise verbindet auch die Fotocollage „Mitten am Rande Europas“ von Andreas Knapp, die ein Flüchtlingscamp in den Kontext des christlichen Humanitätsversprechens stellt und die dabei sogenannten westliche Werte weniger denunziert als einfordert.
Eine ganze Reihe von anderen Werken ist zumindest offen für eine Lesart als Krisenreflexion. Sie haben ihren gemeinsamen Nenner darin, dass sie das scheinbar Unmögliche, oder zumindest große, kaum bewältigbare Aufgaben als Utopie, normatives Leitbild oder auch notwendige Fantasie formulieren: Der Vogel, der nur scheinbar im Käfig sitzt, das Mädchen mit dem Schwimmflügel vor dem großen Pool, die wunderbare Videoinstallation „Schlafes Bruder“ von Erika Kassnel-Henneberg, unterlegt von Johann Sebastian Bachs bekannter Kreuzstab-Kantate, das Mädchen Paula, das den Löwen streichelt – ein akribisch-feines Tuschebild von Fabian Oppolzer - oder die wunderbar absurd-unmöglichen „Flugversuche“ von Norbert Schlessl.
Selbst die große, sich rhizomartig an den Wänden und auf dem Boden des San-Depots ausbreitende Gemeinschaftsarbeit einer Klasse der Nürnberger Kunstakademie lässt sich als Reaktion auf die Krisen der Zeit verstehen. „Wenn der Boden sich erweicht“ ist Tufting auf Jutegewebe, für das die Studentinnen und Studenten nicht nur die notwendigen handwerklichen Fähigkeiten erlernten, sondern auch zusammenarbeiten und sich auf den anderen verlassen mussten. Allesamt Fähigkeiten, die in post-pandemisch-digitalen Zeiten anachronistisch erscheinen, aber umso wichtiger sind.
Selbst die Arbeiten, die Paar-, Familien – oder Geschlechterbeziehungen aufgreifen, lassen sich zeitbezogen verstehen. Sind doch diese Beziehungen ebenso in der Krise, werden reformuliert und neu gedeutet, als Konstruktionen in Frage gestellt, sind belastet durch Pandemie, Überforderung oder die Infragestellung tradierter Rollenzuschreibungen. Das kann provokativ geschehen, wie in "hot stone massage" von Julia Dietrich - Steine in Form weiblicher Brüste auf einer Herdplatte –, auf subtile Art psychoanalytisch grundiert wie in den Fotos von Stephanie Rössing oder auf zurückhaltende Weise fast spektakulär, wie die Holzskulptur "Inbetween I" von Martin Lehmer.
Und dann gibt es die abstrakten Bilder, die Auseinandersetzungen mit Form, Farbe und Strukturen, die Experimente mit Perspektiven, wie sie beispielsweise Maximilian Gessler mit RGB (Rot-Grün-Blau), Katharina Lehmann, Nadine Pasianotto, Christina Kirchinger oder Christine Metz zeigen – offensichtlich unpolitisch, selbstreflexiv, zeitabgewandt. Oder gerade nicht. Kann doch die Verweigerung des Politischen und des Zeitbezugs seinerseits ein Statement zur Zeit sein. Um es anders zu formulieren: Es gibt Zeiten, in denen nichts politischer ist als abstraktes Bild oder ein Naturgedicht. Es sind in der Regel nicht die besten Zeiten.
Insofern ist die politisch-gesellschaftskritische Deutungslinie, die nicht nur Steinberger und Plöckl in der Ausstellung erkennen, ein gutes Zeichen. Trotz aller Krisen. Es kennzeichnet die Ausstellung als demokratische in einer demokratischen Gesellschaft.

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