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„Kinderseelen stranguliert”: Gericht ist überzeugt von Schuldfähigkeit des pädophilen Kinderarztes

Im Prozess um den pädophilen Kinderarzt Harry S., der rund 20 Jungen sexuell missbraucht hat, ist nun ein Urteil gefallen. Zwölf Jahre und neun Monate Haft lautete der Richterspruch der Kammer, außerdem Sicherungsverwahrung und ein lebenslanges Berufsverbot. In der zweiten Auflage des Verfahrens sollte vor allem die Frage geklärt werden, ob der 44-Jährige voll schuldfähig war. Das Gericht um den Vorsitzenden Richter Roland Christiani ist überzeugt: Harry S. wusste genau, was er tat.

S. habe die Taten akribisch geplant, sei vor den Opfern selbstbewusst aufgetreten, sei „stets mit kühlem Kopf, stets mit Kalkül“ vorgegangen, sagte Christiani in seiner Urteilsbegründung. „Planlos war daran nichts.“ Der 44-Jährige hatte einige seiner Opfer in Tiefgaragen oder Hauseingänge gelockt, hatte sie überzeugt sich auszuziehen, um sie zu berühren und Fotos von ihrem Intimbereich zu schießen. Teils hatte er sich an den Kindern von Lebensgefährtinnen vergangen oder an Kindern, mit denen er als ehrenamtlicher Chefarzt beim Roten Kreuz Ausflüge unternahm. Seine Taten hatte S. bereits im ersten Verfahren eingeräumt, an dessen Ende, im März 2016, das Gericht ihn zu einer Freiheitsstrafe von dreizehneinhalb Jahren, Sicherungsverwahrung und Berufsverbot verurteilte. Der Bundesgerichtshof kippte dieses Urteil jedoch teilweise. Es solle erneut untersucht werden, ob der Mediziner zum Zeitpunkt der Taten wirklich in der Lage gewesen sei, sich zu steuern.

Im erneuten Prozess hatten vier psychiatrische Gutachter ihre Einschätzung ausgesagt. Sie alle stellten S. die Diagnose „homosexuelle pädophile Störung ausschließlichen Typs“, das bedeutet, dass der Kinderarzt nur von vorpubertären Jungen sexuell erregt wird. Belege für eine Persönlichkeitsstörung und eine eingeschränkte Schuldfähigkeit fand allerdings keiner von ihnen.

Die Richter hätten zudem durch die Schilderungen des Angeklagten und ihre eigenen Beobachtungen während der Verhandlung ebenfalls die Gelegenheit gehabt, sich ein Bild von S. zu machen, erläuterte Christiani. Der Kinderarzt habe etwa in seinen Erzählungen von den Taten kein einziges Mal auch nur erwähnt, dass er nicht mehr anders gekonnt habe, als seinen Neigungen nachzugeben. „Wenn man aber weiß, man wurde nicht von einer Krankheit geleitet, warum steht man dann nicht zu seinen Taten?“, fragte der Richter den 44-Jährigen. Stattdessen versuche dieser, über ein neues Verfahren ein milderes Urteil zu bekommen. Für die Opfer bedeute aber jeder neue Prozess, dass sie über die traumatisierenden Taten erneut aussagen müssten.

Dass die Opfer noch immer unter den Folgen der Taten leiden, wurde während der Verhandlung ebenfalls thematisiert. Und darüber sei sich der 44-Jährige auch schon im Vorfeld bewusst gewesen, ist das Gericht überzeugt. „Wir haben noch nie einen Täter gehabt, der über so viele Jahre so viele schreckliche Taten begangen hat in dem Bewusstsein, was er tut und was er den Opfern antut“, erklärte Christiani. Durch seinen Beruf habe Harry S. einen ganz anderen Einblick in die Psyche der Kinder gehabt als andere Pädophilie. „Wer wenn nicht Sie als Kinderarzt hat gewusst, wie er die Seele eines Kindes stranguliert, mit Füßen tritt, vielleicht sogar tötet.“

So habe S. das nun verhängte Strafmaß von zwölf Jahren und neun Monaten lediglich der Tatsache zu verdanken, dass in einem Revisionsverfahren ein sogenanntes Verschlechterungsverbot gelte, führte der Richter aus. Die Strafe habe also nicht härter werden dürfen. „Aus unserer Sicht allerdings sind Sie damals viel zu gut davon gekommen“, so Christiani.

Die Staatsanwaltschaft hatte gefordert, bei dem Urteil aus dem ersten Prozess zu bleiben. Die Verteidigung wollte die Freiheitsstrafe auf acht Jahre reduzieren, zudem solle auf eine anschließende Sicherungsverwahrung sowie ein lebenslanges Berufsverbot verzichtet werden. Das ist aus Sicht des Gerichts jedoch undenkbar. S. sei zwar gegenüber seinen Patienten nie übergriffig geworden, trotzdem gebe es Zusammenhänge zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und den Straftaten. So sei er etwa an Medikamente gekommen, mit denen er die Kinder zum Teil betäubte, bevor er sich an ihnen verging, zu denen Nicht-Mediziner keinen Zugang gehabt hätten. S. könne weiterhin in der Forschung arbeiten, die Approbation als Arzt werde er jedoch nicht wiederbekommen.

Auch die Sicherungsverwahrung nach der Haft ist nach wie vor Teil des Urteils. Pädophilie ist nicht heilbar. Ziel der Therapie ist also, dass S. sich trotz der sexuellen Störung nicht mehr an Kindern vergreift. Die Rückfallquote liege jedoch bei 50 Prozent, erinnerte Christiani. Es sei ein hartes Stück Arbeit, das vor dem 44-Jährigen liege. „Es ist nicht Ihre Schwäche, es ist das Ausleben Ihrer Schwäche, das strafbar ist. Dieser Teil steckt in Ihnen und das wissen Sie. Und weil das so ist, ist es gefährlich für die Allgemeinheit.“

Vorausgesetzt der Kinderarzt nimmt das Urteil an, wird er erst wieder frei kommen, wenn ihm ein Gutachter attestiert, dass er keine Gefahr mehr darstellt. S. hat jedoch auch die Möglichkeit, ein weiteres Mal in Revision zu gehen, in der Hoffnung, dass ein drittes Verfahren ihm zu einem anderen Urteil verhilft.


Von Kristin Deibl
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