Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung

Was läuft schief in der Pflege-Finanzierung?

Vom Heimleiter zum „Rebell”: „Das gesamte Pflegesystem in Deutschland ist ein Skandal”, sagt Armin Rieger, der in Stadtbergen wohnt. (Foto: privat)
Vom Heimleiter zum „Rebell”: „Das gesamte Pflegesystem in Deutschland ist ein Skandal”, sagt Armin Rieger, der in Stadtbergen wohnt. (Foto: privat)
Vom Heimleiter zum „Rebell”: „Das gesamte Pflegesystem in Deutschland ist ein Skandal”, sagt Armin Rieger, der in Stadtbergen wohnt. (Foto: privat)
Vom Heimleiter zum „Rebell”: „Das gesamte Pflegesystem in Deutschland ist ein Skandal”, sagt Armin Rieger, der in Stadtbergen wohnt. (Foto: privat)
Vom Heimleiter zum „Rebell”: „Das gesamte Pflegesystem in Deutschland ist ein Skandal”, sagt Armin Rieger, der in Stadtbergen wohnt. (Foto: privat)

Im April saß der Augsburger Armin Rieger bei Sandra Maischberger in der ARD und kritisierte Jens Spahn. Nun legt er in einem Offenen Brief nach. In der Sendung hatte der Gesundheitsminister dem ehemaligen Heimbetreiber des „Haus Marie” vorgeworfen, nichts Konstruktives beizutragen, nachdem Rieger Spahn wegen früherer Lobbytätigkeiten attackiert hatte. Der Augsburger will das nicht auf sich beruhen lassen und liefert dem Minister nun eine Liste an Verbesserungsvorschlägen für die Pflege.

Ein Pfleger für 60 bis 80 Bewohner, verteilt über mehrere Stockwerke, bettlägerige Menschen, die „mit einer Drei-Liter-Windel den ganzen Tag in ihren eigenen Ausscheidungen verbringen müssen” oder „dass verwirrte Menschen oftmals weggesperrt werden und nie mehr einen Garten betreten” - mit derlei Beispielen aus der Zeit seiner Tätigkeit in der Pflegebranche macht Armin Rieger seit geraumer Zeit auf Missstände aufmerksam.

„Die Zeit” taufte ihn einst „Pflege-Rebell” - ihn, der fast 20 Jahre lang das Seniorenheim „Haus Marie” in der Augsburger Jakobervorstadt leitete. Im Juli 2014 begann der Aufstand des Armin Rieger gegen das System. Er sabotierte die Noten seines eigenen Heims absichtlich, um auf die kruden Bewertungskriterien des Medizinischen Dienstes der Kassen und die fragwürdige Prüfungsmethode an sich aufmerksam zu machen. Schließlich legte er gar eine Verfassungsbeschwerde ein. Gegen „die Verletzung der Schutzpflicht des Deutschen Staates gegenüber pflegebedürftigen Menschen durch Untätigkeit und Billigung von Missständen in der stationären Pflege, durch welche die im Deutschen Grundgesetz garantierten Grundrechte der Pflegebedürftigen missachtet werden”. Die Politik wisse um die Missstände, billige diese sogar - denn mit schlechter Pflege werde gutes Geld verdient.

In der Sendung von Sandra Maischberger knöpfte sich Rieger den Bundesgesundheitsminister direkt vor. Spahn war einige Jahre an einer Lobbyfirma beteiligt. Er sei „sehr skeptisch, wenn jemand der zunächst als Lobbyist gearbeitet hat, nun als Gesundheitsminister Gesetze macht”, sagte Rieger. Der CDU-Politiker ging zum Gegenangriff über und warf dem ehemaligen Heimleiter vor, nichts Sinnvolles beizutragen. Das wurmte Rieger offenbar. Sein Schreiben an Spahn leitet er nun mit den Worten ein: „Dort haben Sie mir vorgeworfen, ich würde nichts Konstruktives beitragen, als ich Sie auf Ihre Tätigkeit bei der Lobbyfirma Politas angesprochen habe. Diesen Vorwurf will ich mit diesem Brief entkräften.” Er fordert den Minister auf: „Beschneiden Sie die menschenunwürdige Gewinnsucht der Träger.”

Spahn müsse dafür sorgen, dass die vorhandenen Gelder auch bei den Pflegebedürftigen und beim Personal ankommen. Eine Erhöhung der Pflegebeiträge, wie vom Ministerium angedacht, belaste die Arbeitnehmer und erhöhe lediglich die Gewinne der großen Träger, die dann noch mehr Gelder abschöpfen. Denn, so rechnet Rieger vor, beispielsweise habe der Branchenriese Korian, zu welchem etwa die Pflegeheimketten „Casa Reha” und „Curanum” gehören, 2017 einen Gewinn von 440 Millionen Euro gemacht. Der Konzern selbst, der seinen Hauptsitz in Paris hat, weist auf seiner Internetseite 3,13 Milliarden Euro Umsatz aus. Die Gewinnerwartung der Pflegeheim-Kette Alloheim, nennt Rieger ein zweites Beispiel, habe für 2017 bei 88 Millionen Euro gelegen. Zur Alloheim-Gruppe gehören mehr als 155 Pflegeheime, 27 Einrichtungen mit betreutem Wohnen und 13 ambulante Pflegedienste.

„Diese gigantischen Gewinne sind möglich, da die Vergütungsvereinbarungen zum Betrug einladen”, kritisiert der „Pflege-Rebell”. Bei den Pflegesatzverhandlungen werde mit fiktiven Zahlen jongliert. Der lukrativste Posten dabei sei das Personal. Hier werde mit Daten operiert, die mit den tatsächlich beschäftigten Mitarbeitern nichts zu tun haben. „Es wird auch nicht kontrolliert, ob die Personalkosten mit dem tatsächlich vorhandenen Personal übereinstimmen.”

Einer der Tricks: Es werde oft am Hauswirtschaftspersonal gespart. Dessen Arbeit müsse von den Pflegekräften übernommen werden. Dies habe zur Folge, dass Pflegekräfte noch weniger Zeit für die eigentliche Pflege hätten. „Ändern Sie die Pflegesatzverhandlungen und sorgen Sie dafür, dass nur noch für Leistungen und Personal bezahlt wird, welches auch tatsächlich vorgehalten wird”, schreibt er an Spahn. Und: „Sorgen Sie dafür, dass Pflegesatzverhandlungen mit Bilanzen und Lohnjournalen, und somit mit realen Zahlen, geführt werden und nicht, wie bisher, mit fiktiven Zahlen.”

Bei den Personalkosten könne dann eine gewisse Gewinnspanne mit eingeplant werden. Dies hätte zur Folge, dass Heime mit viel Personal mehr Gewinn machen würden als Heime mit wenig Personal. Wenn dann auch noch die hauswirtschaftlichen Leistungen, welche oftmals an Tochterfirmen vergeben werden, nur noch mit einem relativ geringen Satz vergütet würden, dann lohne es sich auch für die Heime wieder, eigenes Hauswirtschaftspersonal und einen eigenen Koch einzustellen, führt Rieger weiter aus.

Riegers Fazit: „Es genügt nicht, mehr Stellen in der Pflege zu schaffen. Es müssen auch die Arbeitsbedingungen so verändert werden, dass der Beruf wieder interessant wird und ein gutes Image erhält.”

Das Gesundheitsministerium indes will die Vorwürfe nicht gelten lassen. „Der Generalverdacht gegen private Pflegeheimbetreiber, den Herr Rieger in seinem Schreiben äußert, ist aus Sicht des Bundesgesundheitsministeriums nicht gerechtfertigt”, teilt die Bundesbehörde auf Nachfrage mit. Vielmehr sei unternehmerischer Vielfalt und ein Wettbewerb der Anbieter in der Pflege durchaus wünschenswert. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollten frei wählen können zwischen Pflegeanbietern mit unterschiedlichen Profilen und Angeboten. „Ohne private Anbieter wird es nicht gelingen, die hohen Investitionen in Pflegeheime und -angebote zu realisieren, die eine immer älter werdende Bevölkerung notwendig machen. Schließlich drängt eine Branche mit großem Fachkräftemangel die Arbeitgeber dazu, gute Arbeitsbedingungen und anständige Löhne anzubieten, um im Wettbewerb bestehen zu können. Die derzeit zu beobachtenden steigenden Löhne in der Pflege sprechen für sich”.

In Bezug auf die Preisvereinbarungen gebe es „im Gegensatz zu den Ausführungen von Herrn Rieger dazu seit einigen Jahren verschärfte gesetzliche Regelungen, deren Einhaltung von den Kostenträgern, den Medizinischen Diensten und den Heimaufsichten auch überprüft wird”. Allerdings, so räumt das Ministerium ein, wäre „das Fokussieren auf zweistellige Renditeerwartungen für eine Pflegeeinrichtung nicht angemessen”. Denn das wäre nur auf Kosten der Versorgungsqualität und damit auf Kosten der Pflegebedürftigen möglich.


Von Janina Funk

Redakteurin Augsburg-Redaktion

north