Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung

Der Wahlabend im Augsburger Rathaus: Stille, die in den Ohren schmerzt

Stille. Der Raum, in dem sonst die Augsburger Stadträte debattieren, steht unmittelbar vor dem Bersten. Derart prall gefüllt ist er mit Stille. Dann bricht sich erstes Gemurmel Bahn. „Das gibt’s doch nicht“, durchdringen mehrere Stimmen gleichzeitig die Stille, die beinahe so laut ist, dass sie in den Ohren schmerzt.

Gerade wurden die Zahlen aus den ersten 65 ausgezählten Augsburger Wahllokalen eingeblendet. Alle starren auf die große Leinwand über dem Tisch, an dem sonst die Referenten sitzen. Alle sind dabei regungslos, wie die in Bronze gegossenen Figuren auf dem Augustusbrunnen. Ihr Mienenspiel reicht von erstaunt über konsterniert bis entsetzt.
Ulrike Bahr steht bereits im Oberen Fletz des Rathauses. Die Direktkandidatin der SPD hält die rechte Hand vor den Mund. In ihren Augen spiegelt sich eine Mischung aus Traurigkeit und Ratlosigkeit wider. Bei rund 20 Prozent steht der Ulrike-Bahr-Balken, der so rot ist wie ihr Jackett. Ungefähr dort, wo sich auch jener der Bundes-SPD einpendelt.

Rund eine Stunde ist es her, als dieser mit der 18-Uhr-Hochrechnung erstmals zu sehen war. Schon da schluckt die Stille den Saal. Schon da fallen bange Blicke in Richtung der noch balkenlosen Augsburg-Leinwand.

25,1 Prozent hatte Ulrike Bahr erhalten, als sie 2013 erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Nun hat sie jedoch rund fünf Prozent verloren, liegt bei der Erststimme auf dem zweiten Rang. Sie sorgt sich aber besonders um ihre Partei. „Ein absolut schlechtes Ergebnis“, kommentiert die Bundestagsabgeordnete. „Und es ist umso schlimmer, dass diese Stimmen der AfD zufallen.“ Auch in Augsburg. Auf rund 14 Prozent kommt die AfD, ebenso wie ihr Direktkandidat Markus Bayerbach.

Der betritt erst einige Minuten später den Sitzungssaal mit der holzgetäfelten Decke. Mit einem breiten Grinsen fotografiert er zunächst mit dem Smartphone das an die Wand projizierte Balkendiagramm. „Ein Traum“, spricht der Stadtrat sogleich in die Mikrofone. In den Bundestag einziehen wolle er jedoch, selbst wenn er das Direktmandat erhalten sollte, nicht, Bayerbach sehe sich eher als Landtagspolitiker.

Währenddessen applaudieren zwei Handvoll Menschen. Volker Ullrich, Kandidat der CSU, drückt sich am Bayerbach-Interview-Knäuel vorbei. Sein Lächeln ist trotz des Beifalls wohl eher eines der Kategorie süß-sauer. 44,4 Prozent heimste er 2013 ein, nun steht er bei rund zehn Prozentpunkten weniger. Darüber trösten die Umarmungen von OB Kurt Gribl und dessen Frau kaum hinweg.

„Dramatisch schlecht“ nennt er das Abschneiden der Union, die starke AfD einen „Weckruf“. Dennoch: In Augsburg sei die CSU weiter stärkste Kraft, betont Ulrich, zufriedenstellend seien die Zahlen trotzdem nicht.

Mit ihren Werten zufrieden sind die Augsburger Grünen. Von „zwei Seelen in ihrer Brust“ spricht daher Claudia Roth. Die Bundestagsvizepräsidentin trat auch als bayerische Spitzenkandidatin an, war deshalb zunächst in München zugegen. Am späten Abend ist sie telefonisch auf dem Weg in ihren Wahlkreis nach Augsburg erreichbar. Einerseits freue sie das „historisch beste Ergebnis der Grünen in Bayern“, ebenso wie die Zunahme an Wählerstimmen in Augsburg (13,9 Prozent zu 10,5 Prozent 2013). Auch Roth persönlich schneidet stärker ab: 14,4 Prozent, 3,4 mehr als bei der Wahl zuvor. Sie liefert sich an diesem Abend jedoch mit Bayerbach ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den dritten Rang bei den Erststimmen.

Und da beginnt ihr Andererseits: Roth sei in „großer Sorge, darüber, dass nun eine Partei im Bundestag vertreten ist, die Rechtsextreme und Holocaust-Leugner unter sich hat“. Eine ähnliche Angst treibt auch Ulrike Bahr um: „Ich befürchte, die Demokratie wird eine andere sein. Das Arbeiten im Bundestag wird ein anderes sein.“ Für sie steht die Oppositionsrolle der SPD fest: „Die GroKo ist abgewählt.“

Deutlich am Gesicht abzulesen, ist OB Gribl, was er vom Ergebnis in der von ihm regierten Stadt hält. Mit offenem Mund und erschrocken aufgerissenen Augen verfolgt er die sich nun ständig um Kommastellen verändernden Zahlen auf der Leinwand. Am guten Abschneiden der AfD wird sich jedoch nichts mehr tun. Das gebe Anlass „zum Nachdenken“, kommentiert Gribl. Es gelte nun, die Ursachen der Unzufriedenheit zu erkennen. Allerdings spüre er „im Moment ein Stück weit Ratlosigkeit“.

Einen Appell schickt dagegen Claudia Roth durch den Telefonhörer: „Es ist nun Aufgabe der Demokraten, Gesicht zu zeigen, gegen die Demokratiefeinde.“

Das amtliche Endergebnis für den Stimmkreis Augsburg-Königsbrunn wird am Mittwoch, 27. September, um 9 Uhr verkündet. Mehr als 210.000 Einwohner Augsburgs und Königsbrunns waren wahlberechtigt, mehr als 42.000 Augsburger stimmten per Briefwahl ab. In den 207 Wahllokalen lag die Beteiligung bei 72,8 Prozent, 2013 waren es 64,1. Rund 1600 ehrenamtliche Wahlhelfer waren im Einsatz.


David Libossek
David Libossek

Sportredakteur

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