Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 19.08.2021 17:17

„Aufgeben war nie eine Option”

Alpenpässe?   Vier hintereinander? Warum nicht? Jürgen Winkler am Pordoi-Joch in Südtirol.	Foto: privat (Foto: privat)
Alpenpässe? Vier hintereinander? Warum nicht? Jürgen Winkler am Pordoi-Joch in Südtirol. Foto: privat (Foto: privat)
Alpenpässe? Vier hintereinander? Warum nicht? Jürgen Winkler am Pordoi-Joch in Südtirol. Foto: privat (Foto: privat)
Alpenpässe? Vier hintereinander? Warum nicht? Jürgen Winkler am Pordoi-Joch in Südtirol. Foto: privat (Foto: privat)
Alpenpässe? Vier hintereinander? Warum nicht? Jürgen Winkler am Pordoi-Joch in Südtirol. Foto: privat (Foto: privat)

Winkler kann den Begriff „Schicksalsschlag” nicht leiden. Er hat nun einfach ein anderes, mindestens genauso lebenswertes Dasein. Seine Freunde von der Wasserwacht waren es, die nach dem verhängnisvollen Kopfsprung in den Gardasee die Erstversorgung übernahmen, als der damals 20-Jährige sich die Wirbelsäule verletzte. Diagnose: Querschnittslähmung zwischen dem 5. und 6. Halswirbel. Tetraplegie - das bedeutet eine vollständige und in seinem Fall irreparable Lähmung, die unter anderem alle Gliedmaßen betrifft.

„Aufgeben war nie eine Option”, sagt Winkler und „Ich bin nie in ein Loch gefallen”. Dafür sorgten Familie, Freunde, die Freundin und nicht zuletzt Mitpatienten in Krankenhaus und Reha. Und ein Optimismus, der ihn bis heute ermächtigt, auch mit Folgeerkrankungen und anderen Rückschlägen umzugehen und sogar anderen Betroffenen Lebensmut zurückzugeben.

In Jürgen Winklers Wohnzimmer fallen zwei Dinge sofort auf: Das Handbike, das auf seinen Rollen geparkt auf den nächsten Einsatz wartet. Es sieht benutzt aus und ist mit allerhand „Selbstgebautem” optimiert worden. Es hat schon viel erlebt, zusammen mit seinem Besitzer. Davon zeugen die zahlreichen Medaillen und Pokale, die ebenfalls den Raum bevölkern.

Bis dahin war es ein weiter und doch irgendwie logischer Weg. Schon früh in der Reha interessierte der Sportler, der früher ausführlich Fußball spielte, sich für Vorspannbikes, die den Bewegungsradius von Rollstuhlfahrern erheblich erweitern. Um so ein Gefährt zu benutzen, musste er erst einmal lernen, wie er sitzen und seine Arme ohne Trizeps und Hände ohne Fingerfunktion benutzen kann. Die ersten Ausflüge waren anstrengend. Trotzdem träumte Jürgen Winkler von sportlichen Herausforderungen. Ein Handbike, das wäre doch etwas - so dachte er, doch Ärzte winkten ab: keine Chance mit Tetraplegie. Dann traf er Bernd Jost, der in Heidelberg an einem Rennen teilnahm - mit einem Handbike und exakt derselben Verletzung. Der Tüftler zeigte ihm, wie er mit Carbonorthesen die Hände an der Kurbel fixieren konnte, wie er ein- und aussteigt. Aus dieser Begegnung entstanden eine anhaltende Freundschaft, eine berufliche Zusammenarbeit im Bereich Entwicklung von medizinischen Hilfsmitteln und das Tetra-Team des TSV Zusmarshausen.

Für Jürgen Winkler hatte sich eine neue Welt eröffnet. Nach wie vor verwurzelt im Zusmarshauser Vereinsleben gründete er mit seinem Freund als Abteilung des TSV das Tetra-Team. Der Name weist untrüglich auf seine Mitglieder hin: Tetraplegiker mit unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Lähmung, die mittlerweile aus ganz Deutschland kommen, ja sogar in Dänemark oder Spanien leben.

Zunächst war da der Sport: Marathon mit dem Handbike in Rekordzeit. Diese ist für andere Handbiker nicht der Rede wert, doch Winkler kann die Kurbel nur in eine Richtung aktiv bewegen - die Muskeln für das Drücken fehlen. Doch angespornt von seinen Mitstreitern und aus einem tiefen Bedürfnis heraus, wollte er beweisen: es geht immer ein bisschen mehr. Da gab es Langstreckenrennen wie 2009 die Umrundung des Vänern-Sees in Schweden, 300 Kilometer in 22 Stunden. 2011 fuhr er 1100 Kilometer von Sonthofen nach Flensburg in 70 Stunden während einer Staffelfahrt. Auch die Sellarunde mit vier Alpenpässen bewältigte Winkler: Das bedeutete 60 Kilometer und über 2000 Höhenmeter in neun Stunden. 2020 beteiligte er sich am Landkreis-Benefizlauf, wo er von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang Strecke sammelte - unterstützt von seiner Mutter, die immer wieder für frische Kleidung und Wassernachschub sorgte. In zwölfeinhalb Stunden schaffte er 263 Kilometer.

Mit den Jahren wurde aus der Extremsportgruppe nach und nach eine Selbsthilfegruppe für Tetraplegiker. Man findet das Team im Internet und kann sich mit Fragen an Winkler wenden. Er selbst ist dabei „schonungslos offen”, wie er sagt. Sexualität, Inkontinenz, das Thema Nicht-Schwitzen-Können, da ja auch das vegetative Nervensystem betroffen ist - es gibt keine Tabus. Frauenspezifische Themen und Fragen, die einen juristischen Hintergrund haben, gibt Jürgen Winkler ab an seine Vereinsmitglieder. Wenn es darum geht, einem frisch Verletzten zu zeigen, wie lebenswert ein Tetraplegiker seinen Alltag empfinden kann, dann ist er selbst der richtige Mann - immer im Bewusstsein, dass seine eigenen Erfahrungen nie eins zu eins auf eine andere Person umsetzbar sind, denn jeder erlebt die Verletzung anders.

In Winklers Garage stehen eine Menge Bikes. Das Tetra-Team hat dort seine Schätze geparkt. „Das ist mein Mountainbike. Seit ich es habe, komme ich wieder in den Wald und sogar auf eine Wiese. Das ging neun Jahre lang nicht und das Gefühl, nach so langer Zeit die Waldluft zu riechen und Gräser anzufassen, ist unbeschreiblich”, sagt er über ein besonders rustikales Vorspann-Rad. Natürlich ist auch dieses als Sonderanfertigung und mit der tatkräftigen Hilfe eines Freundes entstanden.

Selbstständigkeit in jeder Lebenssituation ist dem Optimisten besonders wichtig. Er lasse sich gerne helfen, aber es sei beruhigend zu wissen, dass er im Notfall auch alleine zurechtkomme. Aus dieser Motivation und dem großen Wunsch, zu reisen wie andere auch, entstand der ausgetüftelte Ausbau seines Kleinbusses, mit dem er nun sogar alleine Urlaubsreisen unternehmen kann - oft zusammen mit Bernd Jost, der ebenfalls über einen Ein-Mann-Bus verfügt.

Während der sportlich extremen Zeit erfanden Winkler und Jost immer wieder „Kleinigkeiten”, die ihnen selbst und anderen Rollstuhl- und Handbikefahrern das Dasein erleichterten. Inzwischen kommen Hersteller und Betroffene auf die beiden Erfinder zu, wenn sie nach einer Lösung suchen. Wichtig sei dabei immer, für den künftigen Nutzer das Optimale an Selbstständigkeit zu erreichen.

Die Gabe zu motivieren und seine Erfahrungen, machen den Mann mit der positiven Ausstrahlung zu einem gefragten Referenten. Er berät andere Betroffene, Pfleger, Ergo- und Physiotherapeuten sowie Ärzte, zeigt - zusammen mit Jost - in Videos, Schulungen und Vorträgen, wie Alltagshandlungen besser gelingen. Im Zusmarshauser Gemeinderat setzt er sich als Behindertenbeauftragter ein. Für den Job im Bauausschuss sieht er sich gerne vor Ort um. So kommt es, dass man Jürgen Winkler kennt, ihn viel im Ort antrifft und er ein Leben mittendrin führt. Das höchste Gut ist die Selbstständigkeit


Von Monika Saller
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