Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung

Fall Harry S.: Prozess gegen pädophilen Kinderarzt hat begonnen

Mit einem umfassenden Rückblick auf unzählige Horrortaten hat gestern vor dem Augsburger Landgericht der zweite Prozess gegen Harry S. begonnen. Der Augsburger Kinderarzt, der 21 Jungen sexuell missbraucht hatte, war im März 2016 zu einer Haftstrafe von dreizehneinhalb Jahren, Sicherungsverwahrung und einem lebenslangen Berufsverbot verurteilt worden. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil jedoch in diesem Jahr auf. Nun wird erneut verhandelt und geprüft, ob der 43-Jährige schuldfähig war.

Eineinhalb Stunden lang verlesen die Richter das Urteil, das das Augsburger Landgericht im März 2016 gegen den angeklagten Mediziner gesprochen hatte. Es greift noch einmal alle Fälle auf, deretwegen Harry S. zu 13 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wurde, beschreibt minutiös, welchen Jungen der Kinderarzt wann, wo und auf welche Art missbrauchte, wie er sich selbst während der Verhandlung zu seinen Taten äußerte und unter welchen Folgen seine jungen Opfer nach den Übergriffen litten.
Wer den umfangreichen und detaillierten Schilderungen lauscht, würde jene Taten dem unscheinbaren Mann auf der Anklagebank wohl kaum zutrauen. Der 44-Jährige mit der randlosen Brille und den ausgeprägten Geheimratsecken, dem schwarzen Pullover und dem unschuldigen weißen Hemdkragen, der darüber hervorschaut, wirkt durchschnittlich, beinahe schon unauffällig. Aufmerksam und mit auf dem Tisch verschränkten Fingern folgt er den Ausführungen des Gerichts. Die Richter beschreiben Tat für Tat, wechseln sich beim Vorlesen ab, „um ihre Stimmbänder zu schonen.“
S. hatte sich zum einen an Buben aus seinem privaten Umfeld vergangen. So etwa an dem Sohn einer ehemaligen Lebensgefährtin, mit dem er immer wieder gemeinsam Urlaub gemacht und Ausflüge unternommen hatte. Der 43-Jährige hielt jedoch auch auf der Straße nach zufälligen Opfern Ausschau. Er lockte Jungen mit Playmobilfiguren oder Lego in Keller und Tiefgaragen, forderte sie auf, ihre Kleidung auszuziehen, um Fotos von ihrem Intimbereich machen zu können, und berührte sie unsittlich. S. nutzte weiterhin seine Stellung als ehrenamtlicher Chefarzt beim Roten Kreuz, um alleine Ausflüge mit kleinen Jungen unternehmen zu können. Für die Unternehmungen hatte er sogar Werbung an Schulen gemacht, die ihm daraufhin Kinder vermittelten. Zum Teil betäubte der Mediziner die Kinder, bevor er sich an ihnen verging.
S. hat seine Taten bereits während der vergangenen Verhandlung eingeräumt. Dass er all diese Dinge getan hat, steht auch im neuen Prozess nicht zur Debatte. Vielmehr soll es um die Frage gehen, ob der Kinderarzt vollumfänglich schuldfähig war. Ein Gutachter hatte dem 43-Jährigen eine sogenannte Kernpädophilie bescheinigt, also eine krankhafte sexuelle Zuneigung zu Kindern. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass S. sein Verhalten durchaus habe steuern können.
Seine Verteidiger sehen das allerdings anders und haben gegen das Urteil Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof hob daraufhin das Urteil auf und gab es zur erneuten Verhandlung an das Augsburger Landgerichts zurück. Damit wird der Fall nun neu bewertet und der 43-Jährige auch noch einmal psychiatrisch begutachtet. Zwei Sachverständige sitzen dieses Mal mit im Gerichtssaal. Einer der beiden ist der Neurologe Dr. Richard Gruber. Er war bereits in der ersten Verhandlung als Gutachter tätig. S. Verteidiger sehen Gruber deshalb als befangen an. Er habe schon damals auf der Schuldfähigkeit des Angeklagten beharrt. Zudem habe er S. seit dem Urteil im März 2016 nicht mehr gesehen und sei damit „auf dem damaligen Wissens- und Beurteilungsstand“.
Der Kinderarzt und seine Verteidiger hoffen, durch das neue Verfahren ein milderes Urteil zu erreichen. Sollte S. sich als nicht voll schuldfähig erweisen, könnte er etwa seine Strafe in der Psychiatrie statt im Gefängnis absitzen. Auch ob das lebenslange Berufsverbot für den Mediziner aufrechterhalten wird, ist noch nicht klar.
Der Prozess gegen den pädophilen Arzt geht bereits am heutigen Dienstag weiter. Dann soll der 43-Jährige selbst erneut die Gelegenheit bekommen, sich zu äußern.


Von Kristin Deibl
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