Auch im Terrorstaat liebte man akribische Aktenführung. Deshalb weiß man, dass Margarete Friedrich am 15. Oktober 1942 genau um 10.21 Uhr die Fahrt von Bayreuth nach Aichach antrat. Dort musste sie in der Justizvollzugsanstalt eine anderthalbjährige Strafe absitzen. Der Vorwurf: „Verbotener Umgang mit einem Kriegsgefangenen“. Eines der unzähligen Schicksale aus der NS-Zeit, von denen immer noch zu viele unerzählt sind und die nicht vergessen werden dürfen. Renate Reckziegel, die Enkelin von Margarte Friedrich, hat die Geschichte ihrer Großmutter rekonstruiert, ein Buch darüber geschrieben, und dabei entdeckt, dass die eigentliche Geschichte wohl ein andere als die in den Akten war – und welchen Einfluss das alles auf ihr Leben hatte und hat.
Lange habe sie von dem Schicksal ihrer Oma nichts gewusst, schreibt die Autorin, die als Journalistin in Offenburg lebt. Dann dauerte es ebenfalls nochmal lange, bis sich daran machte, diese Geschichte und ihre Hintergründe zu erforschen.
Sie beginnt im Sommer 1939, als der Mann von Margarete Friedrich an einer Krankheit stirbt und sie mit ihren elf und fünf Jahre alten Töchtern zur Familie ihres Mannes ins Fichtelgebirge zieht. Dort arbeitet sie auf dem Hof von Karl Herrmann, der gleichzeitig Vormund ihrer Töchter Betti und Regina – der Mutter von Renate Reckziegel – ist.
Er, der Arbeitgeber und Vormund, war es dann, der Margarete Friedrich anzeigte. In den folgenden erniedrigenden Befragungen und dem Prozess lautete der Vorwurf: Sie sei von einem serbischen Kriegsgefangenen, der auf dem Hof arbeitete, mehrfach vergewaltigt worden und habe sich dagegen nicht genügend gewehrt. In den Gerichtsakten, die Renate Reckziegel gesichtet hat, steht unter anderem der Satz: „Es ist mit der Würde der deutschen Frau nicht vereinbar, wenn sie sich gegen Zudringlichkeiten eines Kriegsgefangenen nicht zur Wehr setzt und es zur geschlechtlichen Hingabe kommen läßt. Der Umgang der Angeklagten mit P. muß daher als gröblicher Verstoß gegen das gesunde Volksempfinden bezeichnet werden.“ Das Urteil: anderthalb Jahre Zuchthaus. Der Oberstaatsanwalt hatte sogar zwei Jahre gefordert.
Der Serbe wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Sowohl er wie auch Margarete Friedrich waren aber, das legen zumindest die Untersuchungen von Renate Reckziegel und Aussagen ihrer Mutter nahe, beide Opfer einer Vetuschungsaktion. Denn eigentlich, so die These, missbrauchte der Arbeitgeber und Vormund Karl Herrmann Margarete Friedrich und war auch der Vater des Kindes, mit dem sie im achten Monat schwanger war, als sie ins Gefängnis musste.
Das Kind wurde in der JVA Aichach zur Welt gebracht, starb aber nach kurzer Zeit. Das Gefängnis war zu der Zeit überfüllt, unter anderem weil immer mehr Frauen wegen Bagatelldelikten oder politischer Vergehen eingesperrt wurden. Hunderte von ihnen wurden deportiert, in Vernichtungslagern umgebracht oder überlebten die Konzentrationslager nicht. Ihr Schicksale, das Schicksal der „vergessenen Frauen von Aichach“, wird seit einigen Jahren auf Initiative des Frauenforums Friedberg erforscht (siehe Kasten).
In der Haft verhielt sich Margarete Friedrich laut ihrer 55-seitigen Akte weitgehend unauffällig, das Gefängnis wurde indes immer voller. 1941/1942 saßen 140 Frauen alleine wegen des verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen ein. Am 28. März 1944 hatte Margarete Friedrich ihrer Strafe abgesessen. Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Nicht die von Margarete Friedrich und nicht die, die ihre Enkelin in ihrem Buch erzählt.
So belässt sie es in dem Buch nicht bei einem „Schluss“, der keines war, und hat bei ihren Recherchen auch die weiteren Lebenswege anderer Beteiligter verfolgt. Etwa des serbischen Kriegsgefangenen, der der das Zuchthaus überlebte und im April 1945 von Amerikanern frei gelassen wurde; das des wohl eigentlichen Täters, zumindest des Verantwortlichen für die Anzeige, der zwar 1935 in die NSDAP eingetreten war, laut Akten des Spruchkammer-Verfahrens am Nationalsozialismus aber „nicht mehr als nominell“ teilgenommen und ihn nur „unwesentlich“ unterstützt habe; schließlich die der am Prozess beteiligten Richter und Staatsanwälte. Zwei von ihnen gehörten zu den wenigen Juristen, die in der Bundesrepublik nicht mehr in den Staatsdienst aufgenommen wurden. Das Fazit von Renate Reckziegel: „Für mich bleibt die traurige Erkenntnis: Meine Großmutter ist bei ihrem Prozess ganz fanatischen Vertretern der NS-Justiz in die Hände gefallen.“
Vor allem hat sie aber den Weg ihrer Großmutter und ihrer Mutter weiterverfolgt. Margarete Friedrich heiratete 1945, wenige Monate nach Kriegsende, einen ehemaligen Zwangsarbeiter und ging mit ihm, kaum dass die Töchter auf eigenen Beinen standen, nach Serbien. In dem Ort im Fichtelgebirge war für die unschuldig Verurteilte keine Zukunft mehr: „Im Dorf war ihr Ruf nach alldem so oder so ruiniert.“
Längst weiß man, dass Traumata über die Generationen hinweg weitergegeben werden und weiterwirken. Auch Renate Reckziegel schreibt davon: „Meine Mutter hat ihr Leben lang an Depressionen, Alpträumen und Verlustängsten gelitten. Und wir als Familie mit ihr.“ Auch von einer „Schwere“, die über ihrem eigenem Leben, also dem der Enkelin liege, schreibt sie. Eine weitere Geschichte also, die nicht vergangenen ist und die jeden Gedanken an Schlussstriche oder einer „Befreiung“ von der Last der Geschichte absurd erscheinen lässt.
Das Schicksal von Margarete Friedrich und das Buch, das ihre Enkelin darüber geschrieben hat, bewahrheiten vielmehr einmal einen Satz des Historikers und Holocaust-Forschers Raul Hilberg: „Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen.“ Das hat Hilberg über die Vernichtung der europäischen Juden geschrieben, der Satz gilt aber allgemein. Für Länder und Völker, aber auch für jeden einzelnen.

Renate Reckziegel: Abgeholt. Meine Großmutter, die NS-Justiz und ich. Bookmundo Direct, 84 Seiten, 19 Euro.