Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 19.11.2018 12:00

Tritte gegen den Kopf

Der Rentner war damals mit zwei Bekannten in der Bar. Er erinnert sich, dass er im Vorbeigehen einen Besucher der Gaststätte sagen hörte: „Dem gehört schon längst mal eine aufs Maul gehaut.” Wobei sich das Opfer allerdings nicht angesprochen fühlte.

Auf dem Heimweg sei ihm dann ein Mann entgegengekommen, der ihn durch seinen raumgreifenden Gang genötigt habe, auf die Straße zwischen parkende Autos ausweichen. Plötzlich sei ihm dieser Mann von hinten auf den Rücken gesprungen und habe ihn niedergerissen. Dann habe er „acht bis zehn Mal” auf ihn eingetreten, wobei er versucht habe, seinen Kopf und seinen Oberkörper mit den Armen zu schützen. Mehrfach betonte er im Zeugenstand, dass ihm „ein türkischer Mitbürger” zu Hilfe gekommen sei. Erst da habe der Mann von ihm abgelassen. Prellungen und Schürfwunden wurden im Krankenhaus behandelt, aus dem sich der Mann nach einer Nacht auf eigene Verantwortung entlassen ließ. Noch heute habe er Angst, nachts alleine unterwegs zu sein.

Sowohl er als auch die Polizei vermuteten den Täter unter den rund zehn Gästen in besagter Bar. Doch Videoaufnahmen, die nicht den gesamten Gastraum zeigen, brachten keine Erkenntnisse. Einer der Gäste war zur Vernehmung bei der Polizei nicht erschienen.

Erst mit erheblichem Nachdruck machte er neun Monate nach der Tat seine Aussage. Dabei berichtete der 36-Jährige, dass der Angeklagte an diesem Abend eine halbe Stunde lang aus der Bar verschwunden war. Mehr noch: „Er hat gesagt, dass er jemanden geschlagen hat, aber wir sollen nichts sagen, sonst kriegen wir Ärger.” Die Drohung hat gewirkt. „Ich hatte Angst vor ihm. Er wird schnell aggressiv.”

Der Angeklagte habe an dem Abend nach seiner Rückkehr in die Bar ferner geäußert, dass es einen anderen hätte treffen sollen, es wurde also „der Falsche” geschlagen. Die Prügel hätten folglich für einen Mann gedacht gewesen sein können, „der uns blöd angemacht hat”.

Zwei Umstände machten das Verfahren kompliziert. Einerseits hat das Opfer den Täter nicht anhand der Videoaufnahmen identifizieren können. „Aber als ich ihn heute auf dem Gerichtsflur wiedersah, war ich sicher, er war es.”

Andererseits machte der Angeklagte keine Aussage. Dadurch konnten Ungereimtheiten im Sachverhalt nicht aufgeklärt werden.

Dazu gehört der Umstand, dass der „türkische Mitbürger”, der zur Hilfe kam, drei Personen um das Opfer herumstehen sah. Wer die anderen beiden sein könnten und ob die Rolle der Zeugen hinlänglich geklärt ist, blieb offen. Neben dem Hauptbelastungszeugen sagte nämlich auch ein weiterer Bekannter des Täters aus, der sich an diesem Abend nach 15 Halben Bier und etwa zwei Flaschen gemeinsam getrunkenen Pfefferminzschnapses an extrem wenig erinnerte.

Verteidiger Christian Sturm nutzte die große Alkoholmenge, um die Präzision der Zeugenaussagen anzuzweifeln und für seinen Mandanten, für den er Freispruch forderte, sicherheitshalber Schuldunfähigkeit geltend zu machen. Der Belastungszeuge hat aus seiner Sicht ohnehin nur „Unfug” erzählt. Dem Opfer, das mit eigenem Anwalt als Nebenkläger auftrat, sprach er in puncto Identifizierung des Täters ebenfalls die Glaubwürdigkeit ab. Wegen des beantragten Schmerzensgelds sei der Rentner an einer Verurteilung seines Mandanten „höchst interessiert”.

Für alle anderen Prozessbeteiligten stand nach der Aussage des Opfers und des Belastungszeugens fest: Der mehrfach wegen Betäubungsmitteldelikten, aber auch wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags vorbestrafte Angeklagte war der Täter.

Amtsgerichtsdirektor Walter Hell überschritt mit dem Strafmaß von zwei Jahren Haft sogar den Antrag der Staatsanwaltschaft, die zwei Monate weniger gefordert hatte. Es gebe keinen Anlass für Zweifel, führte der Richter aus. „Sie haben zugeschlagen. Ob andere möglicherweise beteiligt waren, ändert daran nichts.” Die Aussagen der Zeugen seien klar und die „Tat trägt ihre Handschrift”.

Vermutlich wird die Verteidigung Berufung einlegen, sodass das Verfahren in nächster Instanz fortgesetzt wird. Täter springt sein Opfer von hinten an und reißt es nieder


Von Carina Lautenbacher
north