Die Autofahrer auf der Donauwörther Straße lugten ungläubig in den Rückspiegel, auf dem Aldi-Parkplatz verfolgten Mütter mit Kindern neugierig das Spektakel: Der 28 Meter hohe Getreideturm von Landhandel Reitberger wurde diese Woche tapeziert. 150 große Portraits zieren den Betonbau jetzt, sie zeigen die Gesichter ganz normaler Menschen aus Aichach und Umgebung. Die 1,50 Meter großen Schwarzweiß-Aufnahmen bleiben am Turm hängen, bis sie Wind und Wetter dort ablöst. Was hoffentlich erst nach dem kommenden Freitag sein wird. Denn an dem wird die Aichacher Kunstmeile eröffnet. Deren zentrales Exponat ist eben der Reitberger-Turm, der im Rahmen von „Inside Out” umgestaltet wird.

„Inside Out” ist ein Projekt, das der französische Fotograf und Künstlers JR 2011 startete: Menschen einer Stadt oder einer Region lassen sich fotografieren, die großflächigen Bilder werden dann gruppiert und in Fläche präsentiert – etwa an Hochhäusern, begehbar auf Marktplätzen oder auf Hausdächern, die man von oben betrachten kann. Mit ihren Gesichtern zeigen die Teilnehmenden ihre Zugehörigkeit und ihre Lebensideen. Mehr als eine halbe Million Menschen aus über 150 Ländern haben sich bereits an dem Projekt beteiligt, das als größtes partizipatives Kunstwerk der Welt gilt

In Aichach war Angelika Man die Initiatorin. Sie arbeitet als Marketingfrau im Rathaus. Die Idee von JR lernte die studierte Flötistin in Augsburg kennen, wo vor einigen Jahren anlässlich des Friedensfestes ein Inside-Out-Project (IOP) realisiert wurde. Jetzt hat sie eines in die Paarstadt geholt.

„Das war eigentlich sehr einfach”, erzählt Angelika Man. „Man meldet sich übers Internet an und teilt mit, dass man so eine Aktion starten möchte. Wenn die Umstände passen, bekommt man die künstlerische Freigabe dafür.” JR greift persönlich freilich nicht ein. Die Akteure müssen sich selbst kümmern um einen Fotografen, der die Menschen ablichtet, eine geeignete Ausstellungsfläche und das zugehörige Konzept, auch um die notwendigen Mitarbeiter vor Ort. Das JR-Team druckt allein die übergroßen Fotos aus und schickt die Abzüge zu den Ausstellern.

Was das kostet? „Nichts”, sagt Angelika Man und weist damit Mutmaßungen zurück, die Stadt Aichach habe eine hohe fünfstellige Summe in das Projekt gesteckt. Sicherlich müsse man die Kosten für den Bilderversand übernehmen, auch der Bauhof und die Feuerwehr kommen zum Einsatz. Aber schon Fotograf Johannes Wallner habe ehrenamtlich gearbeitet. Das sei ja auch der Sinn der Aktion: Menschen sollen zusammenkommen und für ihre Ideen gemeinsam Gesicht zeigen. Die anfallenden Kosten werden über Spenden eingeholt. JR erbittet von den IOP-Veranstaltern eine freiwillige Zahlung.

188 Frauen, Männer und Kinder haben sich Anfang März von Johannes Wallner fotografieren lassen. Ihre Portraits sind jetzt auf herkömmliches Papier ausgedruckt und wurden dieser Tage in Aichach aufgehängt. Auch da legte Angelika Man Hand an: Höchstselbst stieg sie in den Korb der Feuerwehrdrehleiter und ließ sich in die Höhe lupfen. Mit Tapetenkleister wurden die Bilder an die Wand gepappt.

Interessierter Zuschauer war Gerhard Reitberger. Der Chef von Landhandel Reitberger und dem Landfuxx hatte spontan zugesagt, als die Stadt ihn ansprach, ob er denn seinen 28 Meter hohen Turm als Ausstellungsort zur Verfügung stellt. „Ich bin ein Fan moderner Kunst”, verrät der 59-Jährige. „Comic, Popart, all das interessiert mich seit meiner Jugend. Klar, dass ich sofort zugesagt habe.” Der Turm, der vor 64 Jahren gebaut wurde, steht ohnehin viele Monate im Jahr leer. Nur zur Druschsaison lagern bis zu 700 Tonnen Getreide darin. Ihn jetzt als künstlerischen Leuchtturm für Aichach zu sehen, freut den Unternehmer so, dass er auch selbst zu Kleister und Malerbürste griff.

Offiziell vorgestellt wird das IOP am kommenden Freitag. Dann wird auf dem Stadtplatz die Kunstmeile eröffnet. Rund 30 Kreative aus der Region zeigen dabei ihre Werke in Geschäften rund um den Stadtplatz, einige große Installationen sind unter freiem Himmel zu sehen. Das San-Depot ist ein weiteres Kunstzentrum. Die Kunstmeile dauert bis zum 1. Juli. Wenn es nicht heftig gewittert und die Stürme wehen, sollten auch die Papierportraits am Reitbergerturm so lange halten.

Die Aichacher Kunstmeile wird am Freitag, 26. Mai, um 18 Uhr auf dem Stadtplatz eröffnet. Die Augsburger Formation Swing Tanzen Verboten sorgt für den musikalisch richtigen Groove. Der Pianist Stefan Immler spielt am Eichenhain auf dem Streetpiano, dazu gibt es Cocktails und Drinks von der Paartalia.