Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 08.09.2016 10:45

Zwischen Aktien und Almosen: Arm und Reich in Augsburg

Fast schon klischeehaft glänzt die massive Uhr vom Arm des Sitznachbarn. Polierte Schuhe, dunkelblauer Anzug, die Haare nach hinten gegelt: Der Mittvierziger ist der Archetyp derer, die an diesem Abend in den Vortragssaal der Augsburger Zentrale eines großen Bankhauses gekommen sind. Um Investmentmöglichkeiten auf dem Immobilienmarkt soll es gehen. „Wir schwimmen in Liquidität”, erfahren die über hundert Teilnehmer der Veranstaltung vom Referenten. Auf sie trifft das womöglich zu.

Ortswechsel: Oberhausen, Ausgabestelle der Augsburger Tafel. Die Schlange vor dem Gebäude wird immer länger. Mehrere Hundert Bedürftige werden auch an diesem Tag von den vielen freiwilligen Helfern versorgt. Diese schwimmen auch - in Arbeit. 30 bis 35 Tonnen Lebensmittel verteilen die Ehrenamtlichen pro Woche an sechs Standorten in Augsburg. In den 20 Jahren, in denen es die Tafel inzwischen gibt, sei die Armut merklich gestiegen, sagt Vorstand Fritz Schmidt. „Es gibt immer mehr Menschen, die zurückbleiben.” Tafel-Kunden seien vor allem junge Familien, alleinerziehende Mütter, bedürftige Rentner, Menschen, die plötzlich arbeitslos wurden. Schmidt, braune Jeans und ein schlichtes hellblaues Hemd, konstatiert: „Armut kann jedem passieren”.

Wohlstand auch? Wer genau in „Liquidität schwimmt” ist im Immobilienmarkt-Vortrag noch nicht ganz klar geworden. Die deutsche Wirtschaft, die Klienten der Bank? Letztere sollten in jedem Fall jetzt „ihr Immobilienportfolio fit machen”, sagt ein anderer Redner. In Augsburg sei das Stadtjägerviertel lukrativ. Gesprächsfetzen während des Sektempfangs, der dem Vortrag vorausgegangen war, hatten eher vermuten lassen, dass bei den Herren im schicken Dreiteiler Haunstetten hoch im Kurs liege. Jüngst habe er dort „drei Grundstücke” gekauft, erzählt ein älterer Mann mit Brille, während seine Gesprächspartnerin im Kostümchen am Sekt nippt.

Kisten und Ablagen mit Gemüse, Obst, Brot, Molkereiprodukten und Hygiene-Artikeln stehen im Ausgaberaum der Tafel dicht an dicht. Es sind vor allem Überproduktionen und Spenden von Supermärkten und Bäckereien. Durch die Menschenreihen davor hüpfen auch einige Kinder. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die vehement darauf hinweisen, nicht fotografiert werden zu wollen, scheint es ihnen nichts auszumachen, an diesem Ort zu sein. Von den insgesamt 5000 Personen, die von der Tafel versorgt werden, seien 1200 bis 1300 Kinder und Jugendliche, erklärt Schmidt. Den meisten Erwachsenen, die in diesem Moment ihre Taschen mit Lebensmitteln füllen, sieht man die Bedürftigkeit nicht sofort an. T-Shirts und Jeans überwiegen. Das Hemd eines Mannes um die Sechzig lässt bei genauer Betrachtung einige Löcher erkennen.

Was die älteren Menschen angehe, gebe es viele, „die aus Scham nicht zu uns kommen”, sagt Schmidt. Viele könnten von ihrer Rente nicht leben, ergänzt Peter Gutjahr, zweiter Vorstand des Tafel-Vereins - und erzählt von Senioren und ehemaligen Selbstständigen, die ihr Leben lang offenbar nicht genügend in die Sozialkassen eingezahlt oder privat vorgesorgt hätten. „Man sollte nicht glauben, wer da alles kommt”. Und: „Ich befürchte, dass vor allem die Altersarmut weiter steigen wird.”

Der Referent in der Bank hat inzwischen gewechselt: „Die Altersarmut wird massiv zunehmen”, hört man nun - und statt Anlagetipps gibt es plötzlich Gesellschaftsanalyse. Womöglich sei gar das Ende der sozialen Marktwirtschaft erreicht, stellt der Mann mit adrett gestutztem Schnurrbart schließlich trocken fest. Auf dem Immobilienmarkt, so prognostiziert er, werden die Preise weiter steigen, aber: „Wir steuern unweigerlich auf eine Blase zu.” Aus dem Publikum kommt der Hinweis, eine platzende Blase sei doch eigentlich etwas Positives. „So günstig wie dann komme ich sonst doch nie an Immobilien”, sagt der Zuhörer und schiebt die Frage hinterher: „Soll man lieber in einen Wohnblock in Lechhausen investieren oder in eine Luxusimmobilie?” Wohnen sei generell sehr stabil, nur von Gewerbeflächen rate er ab, antwortet der Redner. Und überhaupt: „Alles gar kein Problem, solange Sie in schlechten Zeiten nicht auf die Verkäufer-Seite gehen müssen.”

Nach den Vorträgen stehen Buffet und Weinprobe auf dem Programm, während in Oberhausen die Kisten immer leerer werden. Immerhin: „In Deutschland wird niemand verhungern”, sagt Fritz Schmidt. „Wir helfen, dass den Menschen auch mal Geld für Dinge übrigbleibt, die sie sich sonst nicht leisten könnten.”


Von Janina Funk

Redakteurin Augsburg-Redaktion

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