Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 14.12.2022 14:56

Wackelige Freiheit

Die Angeklagte wurde aus der Untersuchungshaft aus München vorgeführt, verfolgte das Verfahren gegen sie in Handschellen – und verließ den Aichacher Gerichtssaal dann doch als freier Mensch. Zwar verurteilte Richterin Alena Weidemann die 22-Jährige unter anderem wegen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung und Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, setzte die Strafe allerdings unter strengen Auflagen für drei Jahre zur Bewährung aus. Ob es dabei bleibt, und vor allen Dingen wie lange die junge Frau tatsächlich auf freiem Fuß bleibt, ist ungewiss. Zum einen deutete die Staatsanwaltschaft eine Berufung an, zum anderen machte die Frau nicht den Eindruck, als habe sie den "Warnschuss" des Gerichts wirklich verstanden und die ihr eingeräumte Chance auch als solche erkannt.

Schon während der Verhandlung machte die Angeklagte einen leicht verwirrten Eindruck. Immer wieder murmelte sie davon, erst mal gesund werden zu müssen, endlich frei sein und nach Hause zu wollen. Die Fragen der Richterin, an was sie denn nun erkrankt sei oder wo denn ihr Zuhause sei, ließen sich nicht eindeutig beantworten. Einen offiziellen Wohnsitz hat die in Aichach geborene Frau nicht, unterwegs war sie vor ihrer Verhaftung vornehmlich in Augsburg, aber auch in Berlin und Halle. Möglicherweise war sie zwischendurch bei einem sozialen Dienst untergebracht, sie lebte aber offensichtlich auch bei Bekannten und auf der Straße. "Ich bin schwer verliebt, kein Schwerverbrecher", gab sie vor dem Amtsgericht zu Protokoll. Irgendwann sei sie von der Kripo mitgenommen worden, sie habe nichts schlechtes getan, wolle nur erst einmal gesund werden.

Tatsächlich war die 22-Jährige schon zwei mal in Untersuchungshaft, verurteilt wurde sie bisher aber nie. Zehn Einträge finden sich im Bundeszentralregister der Frau, alle Verfahren wurden allerdings eingestellt. Die Liste reicht von Diebstahl sowie Körperverletzung und dem Besitz von geringen Mengen an Betäubungsmitteln bis zur Erschleichung von Leistungen, wohinter sich schlicht Schwarzfahren mit der Bahn in diversen Fällen verbirgt. Irgendwann wurde in Berlin ein Haftbefehl ausgestellt, erst in der U-Haft in Aichach kam es schlussendlich zu den ersten wirklich relevanten Taten. Die junge Frau beleidigte eine Vollstreckungsbeamte aufs Übelste und griff die JVA-Bedienstete an, die sich dabei verletzte. Einige Wochen später fuhrt die ehemalige Aichacherin per ICE von Berlin nach Halle – wieder ohne Ticket. Und kurz darauf schließlich geriet sie am Königsplatz in Augsburg mit Mitarbeitern des dortigen Ordnungsdienstes aneinander. Sie hatte eine Zigarettenkippe auf den Boden geworfen, was in der Fuggerstadt nicht erlaubt ist. Als ihre Personalien aufgenommen werden sollten, rastete die junge Frau wieder komplett aus, beleidigte die Vertreter der Stadt und später auch die herbeigerufenen Polizisten, die sie auch noch attackierte und anspuckte. Die Folge: erneute Untersuchungshaft.

Warum die 22-Jährige in der U-Haft aus dem Nichts heraus ausrastete, blieb unklar. Sie hatte die Beamtin jedenfalls nie zuvor gesehen und sollte eigentlich nur ihr Essen holen. Unter der Rubrik "haftempfindlich" ordnete der Staatsanwalt den Vorfall ein. Der Vertreter der Anklage erkannte auch an, dass die Frau nicht vorbestraft ist und der entstandene Schaden gering war – von der Verletzung der JVA-Beamtin abgesehen. Alles in allem summierte er die Einzelfälle auf ein Jahr und zwei Monate Haft. Eine Bewährung kam für ihn nicht in Frage. Die nämlich setze eine günstige Sozialprognose voraus, die bei der 22-Jährigen allerdings keineswegs gegeben sei. Die Frau hat nach eigenen Angaben zwar Mittlere Reife, aber keine Ausbildung. Zwischendurch jobbte sie in Augsburg als Küchenhilfe, nun lebt sie von Sozialhilfe. "Mein Zuhause ist die Stadt", gab sie zu Protokoll.

Die Verteidigern der jungen Frau hielt sich zurück, fragte sich nur, ob man bei einer ersten Verurteilung tatsächlich schon auf eine Bewährung verzichten sollte. Eine Chance sollte doch jeder eigentlich bekommen.

Das sah am Ende auch Alena Weidemann so. Die Richterin räumte ein, dass sie sich bei der Urteilsfindung sehr schwer getan habe und übte letztlich Kritik am bisherigen Vorgehen der Justiz. Äußerst ungut sei es, wenn so viele Fälle wie bei der 22-Jährigen einfach wieder eingestellt würden ohne ein einziges Gerichtsverfahren und den damit verbundenen "Warnschuss" für die Angeklagte. "Mir widerstrebt es, einen Menschen, der nie einen Warnschuss bekommen hat, gleich ins Gefängnis zu schicken", betonte Weidemann. Die Taten der 22-Jährigen seien zwar nicht zu verharmlosen, letztlich handele es sich aber um keine Schwerkriminelle. Man müsse versuchen, sie auf die richtige Bahn zu bringen. Weidemann machte deutlich, dass die junge Frau dazu Hilfe braucht und stellte ihr einen Bewährungshelfer an die Seite. Sämtliche Wohnsitzwechsel muss die 22-Jährige sofort melden, zudem muss sie 100 Arbeitsstunden beim Katholischen Verband für Soziale Dienste (SKM) in Augsburg absolvieren.

Den Haftbefehl hob Alena Weidemann auf und machte unmissverständlich klar, dass es nun an der jungen Frau liege, diese Chance auch zu nutzen.

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