Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 15.03.2016 12:00

Stefan Bradl startet erstmals als MotoGP-Werksfahrer in die WM

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Bisher, sagt der Zahlinger, sei er in der Königsklasse ja nur auf so genannter Satellitenbasis mit Werksmaschinen unterwegs gewesen. Das war in den drei Jahren bei LCR (2012 bis 2014) mit Honda nicht anders als im unsäglichen ersten Halbjahr 2015 bei Forward Racing mit Yamaha. Bei Aprilia betritt der 26-Jährige nun Neuland. Der Rennstall aus Noale (bei Venedig) steigt in dieser Saison mit einem komplett eigenen Produkt in die MotoGP ein. Bisher machten die Norditaliener in den unteren Klassen auf sich aufmerksam. Bradl gewann seine ersten zwei WM-Rennen 2008 in der Achtelliter-Kategorie auf einer Aprilia.

Für ihn, der es bisher gewohnt war, auf erprobten oder ausgereiften Maschinen zu sitzen, sei es natürlich eine „riesige Herausforderung, ein Motorrad mit zu entwickeln”, betont Bradl. In dieser „wirklich interessanten Situation” könne er „viel dazulernen”. Vielleicht kann auch Vater Helmut, der Vize-Weltmeister in der „250er” 1991, der mit ins Wüstenemirat geflogen ist, seine immense Erfahrung mit einbringen, wenn ab Donnerstag die Trainingssessions anstehen.

Stefan Bradl macht kein Hehl daraus, dass es in der Vorbereitung nicht wunschgemäß gelaufen ist. Erst vor zwei Wochen haben er und sein spanischer Teamkollege Alvaro Bautista, 31, die neuen RS-GP-Maschinen bekommen (geschätzt zwischen 250 und 280 PS). Deshalb musste das Team die Testfahrten im malaysischen Sepang im Februar noch auf dem Motorrad der vergangenen Saison bestreiten, die Experimentiertage auf Phillip Island (Australien) wurden ganz gestrichen. Aprilias Comeback-Maschine war nach Expertenmeinung nur ein Provisorium zwischen Superbike und reinrassigem MotoGP-Motorrad. Bradl holte damit in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres acht Punkte (sechs für Platz zehn in Sepang, zwei für Rang 14 in Brünn), 2015 schloss er in der WM-Wertung als 18. mit 17 Punkten ab. Das war nicht viel für seinen Anspruch, aber immerhin war er glücklich, wieder in einem professionellen Team zu sein. „Es macht mir Spaß, ich fühle mich superwohl”, sagt Bradl heute.

Nach seinem Abschied von LCR geriet das Jahr 2015 für den Moto2-Weltmeister von 2011 zu einer großen Enttäuschung. Nachdem sich bei Forward Racing schon die sportlichen Erwartungen nicht erfüllt hatten - immerhin erreichte er auf der Yamaha mit Platz acht beim Großen Preis von Katalonien in Barcelona die beste Platzierung 2015 -, war dann auf einmal auch noch der Teamchef pleite. Als wäre das nicht Unbill genug, zog sich Bradl in jener Zeit bei einem Sturz im niederländischen Assen einen Kahnbeinbruch zu und musste operiert werden. Deshalb versäumte er ausgerechnet seinen Heim-Grand-Prix auf dem Sachsenring. Wenigstens war es möglich, den Vertrag mit Forward Racing aufzulösen, worauf er bei den Venetiern anheuern konnte, die zwei Fahrer für ihren Angriff in der MotoGP suchten. Bradl blieb also im Geschäft, aber die lädierte Hand machte ihm noch einige Rennen zu schaffen.

Die Fertigstellung von Bradls neuer Werksmaschine hat sich in den vergangenen Wochen immer wieder verschoben. Erst vor zwölf Tagen hat er sie für Testfahrten auf dem Losail International Circuit in Katar bekommen. In der Konsequenz hat er selbstredend viel zu wenig Kilometer abgespult. „Das Team musste sich viel um die Elektronik kümmern, deshalb sind wir einige Zeit nur in der Box rumgehockt”, bedauert er. Mit dem Fahrwerk hätten sich die Mechaniker noch gar nicht hundertprozentig beschäftigen können.

Angesichts dieser Verzögerung nimmt Stefan Bradl die ersten Übersee-Rennen (nach Katar geht's nach Argentinien und von dort nach Texas) mit in die Probephase mit auf. Erst mit dem ersten Grand Prix in Europa im spanischen Jerez (24. April) werde es für Aprilia ernst. Bradl weiß im Moment nur eines: „Auf uns wartet noch viel Arbeit.” Erst in der zweiten Jahreshälfte spekuliert er auf entsprechende Ergebnisse. „Wenn wir dann in die Top Ten fahren können, das wär's”, gibt er als Devise aus.

Stefan Bradl soll bei Aprilia nicht nur eine Werksmaschine für die MotoGP mit entwickeln, nebenbei sieht er sich auch noch in einer scharfen Konkurrenzsituation mit Alvaro Bautista. Da Aprilia für 2017 schon den Engländer Sam Lowes, 25, verpflichtet hat, fahren der bayerische Schwabe und der Kastilianer aus Talavera de la Reina, beide mit Kontrakten bis Ende 2016 ausgestattet, um den zweiten Platz im Team 2017. „Wir sind Teamkollegen und knallharte Gegner”, beschreibt Bradl sein Verhältnis zu Bautista. Mit dem Weltmeister von 2006 in der 125-ccm-Klasse sieht er sich „vom Niveau her ziemlich ähnlich”. Der Druck freilich sei für ihn nichts Neues. Den habe er als Motorradrennfahrer doch immer gehabt. Bradl will auch nichts von einem richtungweisenden Jahr in seiner Laufbahn wissen. Manche meinen, es gehe heuer um nichts weniger als um seine Zukunft in der Königsklasse. „In der MotoGP laufen Ende des Jahres so viele Verträge aus, da kann sich eine Menge tun”, bedeutet er.

Klar ist indes: Behauptet sich Bradl gegen Bautista, muss er sich nicht wieder umschauen, dann hat er seinen Platz bei Aprilia sicher. Den Anfang für ein erfolgreicheres Jahr, als es das letzte war, will der Zahlinger in Katar machen. Vor Jahresfrist fuhr er vor den Toren Dohas als 16. um drei Zehntelsekunden an einem WM-Punkt vorbei. Am Sonntag beginnt das Rennen auf dem 5,4-Kilometer-Kurs mit seinen 16 Kurven wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, die den Asphalt rutschig machen kann, eine Stunde früher um 21 Uhr (MEZ 19 Uhr).

An der Spitze der MotoGP rechnet Bradl heuer wieder mit einem Dreikampf zwischen Jorge Lorenzo, Valentino Rossi und Marc Marques. Der aktuelle Champion Lorenzo ist für ihn Favorit; den besten Draht hat er aber zu Rossi, der sei einfach ein „lustiger Typ”. Für den Zahlinger beginnt die WM erst mit Europa-Auftakt in Jerez richtig


Von Heribert Oberhauser
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