Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 08.07.2019 13:56

Lebensschule mit Trillerpfeife

Ein Lächeln im richtigen Moment   war eines seiner Markenzeichen: Schiedsrichter Knut Kircher, der hier dem damaligen Berliner Mitchell Weiser die gelbe Karte zeigt. 	Foto: Soeren Stache/dpa (Foto: Soeren Stache/dpa)
Ein Lächeln im richtigen Moment war eines seiner Markenzeichen: Schiedsrichter Knut Kircher, der hier dem damaligen Berliner Mitchell Weiser die gelbe Karte zeigt. Foto: Soeren Stache/dpa (Foto: Soeren Stache/dpa)
Ein Lächeln im richtigen Moment war eines seiner Markenzeichen: Schiedsrichter Knut Kircher, der hier dem damaligen Berliner Mitchell Weiser die gelbe Karte zeigt. Foto: Soeren Stache/dpa (Foto: Soeren Stache/dpa)
Ein Lächeln im richtigen Moment war eines seiner Markenzeichen: Schiedsrichter Knut Kircher, der hier dem damaligen Berliner Mitchell Weiser die gelbe Karte zeigt. Foto: Soeren Stache/dpa (Foto: Soeren Stache/dpa)
Ein Lächeln im richtigen Moment war eines seiner Markenzeichen: Schiedsrichter Knut Kircher, der hier dem damaligen Berliner Mitchell Weiser die gelbe Karte zeigt. Foto: Soeren Stache/dpa (Foto: Soeren Stache/dpa)

Zugegeben, den 1,96 Meter in die Höhe gewachsenen Mann mit dem Bürstenhaarschnitt zu übersehen, ist schwierig. Seine Körperlänge kam ihm freilich auch in seiner Laufbahn in Deutschlands Fußball-Eliteklasse zupass. Doch Größe allein reicht lange nicht aus. Es sind jene Attribute, die Kircher einst auf dem Fußballplatz ausgemacht haben, die ihm am Freitagabend die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf dem Lehrabend der Schiedsrichtergruppe Ostschwaben einbringen. Jene Eigenschaften, die er als wichtigstes Handwerkszeug für einen Unparteiischen aufzählt: Authentizität, Ausstrahlung und ein Schuss Humor.

Dinge, die man Kircher zufolge mit jedem Spiel, das man leitet, lernen und weiterentwickeln kann. Nicht umsonst sagt er: „Die Schiedsrichterei ist eine Lebensschule.” Was dann folgt, darf durchaus als Plädoyer darauf verstanden werden, warum es sich trotz teils immer giftiger werdender Kicker, überehrgeiziger Spielereltern oder keifender Zuschauer lohnt, zur Pfeife zu greifen. Man lerne, wirbt Kircher, Konflikte auszuhalten und sie zu lösen, Kompromisse zu schließen, mit Fehlern umzugehen und vor allem Entscheidungen zu treffen. Kurzum: „Man reift als Persönlichkeit.”

Für diesen Prozess sei wichtig, betont der 50-Jährige, „dass ein junger Schiedsrichter weiß, er ist nicht allein da draußen”. Ihm dieses Gefühl zu geben, liege nicht nur bei seiner Gruppe, sondern genauso bei seinem Verein. „Schiedsrichter sollten nie abgesondert sein. Sie sollten spüren, dass sie dazugehören zum Fußball”, appelliert Kircher. Dann schiebt er nach: „Ohne sie geht es nunmal nicht.”

Das Problem: Die Unparteiischen werden immer weniger. Damit konfrontiert, dass der Spitzenreiter der Gruppe Ostschwaben in der vergangenen Spielzeit 96 Partien leitete, zieht Kircher erstaunt die Augenbrauen hoch und schüttelt beinahe ungläubig den Kopf.

Auch Kircher wurde einst aus der Not seines Heimatvereins heraus zum Referee. Seine große Karriere entsprang letztlich einer Na-gut-dann-mach-ich's-halt-Gefälligkeit. „Ungeschickt” sei er damals mit drei seiner Mannschaftskameraden beim TSV Hirschau zusammengestanden, als der Jugendleiter ihn und die anderen Nachwuchskicker ansprach. 18 Spiele in drei Jahren leitete Kircher zunächst, ehe er mehr und mehr Gefallen daran fand und einen, wie er es nennt, „Drive entwickelte”. Neue Herausforderungen folgten in immer höheren Klassen, bis der Tübinger am 8. September 2001 mit 1860 gegen Nürnberg sein erstes von 243 Bundesligaspielen pfiff.

Klar hat Kircher einige Anekdoten mitgebracht nach Inchenhofen. Wie die von Mario Basler, der nach Spielen die Schiedsrichterkabine aufsuchte, weil dort das Rauchen erlaubt war. Oder die von BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, der ihn im April 2012 unmittelbar vor dem Anpfiff des meisterschaftsentscheidenden Duells zwischen Dortmund und Bayern gerissen darauf hinwies, er habe gehört, Kircher sei Bayern-Fan. Aber auch eine Geschichte vom Pokalfinale in Libyen, das Kircher als Gastreferee betreute und bei dem ein 30 Zentimeter langer Dolch, der von der Tribüne aufs Spielfeld zischte, nur knapp seinen Linienrichter verfehlte, gibt er zum Besten. „Ohne die Schiedsrichterei hätte ich all das nicht erlebt”, bekundet der 50-Jährige schließlich.

Kircher teilt aber nicht nur derlei launige und erstaunliche Erinnerungen. Er spricht auch offen vom Umgang mit Fehlern. Von Nächten mit wenig Schlaf, von drei, vier Tagen, die es dauerte, bis er eine schlechte Entscheidung verarbeitet hatte. Davon, wie einer seiner drei Söhne eine Vier in Deutsch nach Hause brachte und sich mit der Montagsausgabe des

Kicker

rechtfertigte, in der sein Vater mit einer Fünf bewertet wurde. Und davon, wie er trotz der Erkenntnis, „dass Fußball nur ein Spiel sei, das nach 90 Minuten zu Ende ist”, erleichtert war, wenn bis Montagabend in keiner der zahlreichen Fußballsendungen nicht doch noch ein Kircher-Fehlpfiff entdeckt wurde.

250 bis 300 Entscheidungen, führt er aus, treffe ein Unparteiischer während einer Begegnung. „Hängen bleiben die ein, zwei oder drei, die daneben liegen. Für die anderen, die richtigen, wird man aber nicht gelobt, die werden als selbstverständlich angesehen.” Dann ruft er in den Raum: „Nullkommanull Fehler, das ist die Erwartung an uns.” Weil das kaum zu erfüllen sei, hat Kircher einen weiteren essenziellen Rat: „Akzeptiert, dass ihr Menschen seid.”

Trotz derlei Weisen und all der Erfahrung ist auch „Deutschlands Schiedsrichter des Jahres 2012” ein falsch gegebener Elfmeter bis heute im Gedächtnis. Vierter Spieltag der Saison 2015/16, Kirchers letzte als Bundesligaschiedsrichter, FC Bayern gegen FC Augsburg. Douglas Costa lief im Strafraum auf Markus Feulner auf und fiel. Der Assistent hob die Fahne, Kircher pfiff, Müller traf, Bayern siegte 2:1. „Ich habe”, räumt der heutige Schiedsrichterbeobachter am Freitag überraschend offen ein, „die gesamte Saison auf den FCA geschaut und gehofft, dass er nicht absteigt.”

Diese Szene ist eine von vielen, die Kircher im Voglbräu über die Leinwand laufen lässt. Immer wieder hält er Videos an, diskutiert mit seinen Zuhörern, was sie gesehen haben, wie sie entschieden hätten. So auch die Sequenz, die den Tübinger zu einem Kultreferee machte. Als er im Relegationsrückspiel zur 2. Bundesliga zwischen 1860 und Kiel dem Münchner Christopher Schindler, der wild gestikulierend vor ihm auf und ab sprang die Faust auf die Brust drückte und gleichzeitig mit einem düsteren Blick auf ihn herunterschaute, um den ihn wohl selbst Clint Eastwood beneidet hätte. Im Internet und in den Medien wurde er dafür gefeiert, er selbst hingegen bereute bereits tags darauf sein forsches Vorgehen.

Aber genau das macht für den 50-Jährigen wiederum den Reiz am Schiedsrichterdasein aus: „Wir lassen uns jedes Wochenende auf Neues ein”, schwärmt er den Zuhörern vor. Auf unterschiedliche Typen, auf ungekannte Situationen, auf die oft so diskussionsträchtigen Entscheidungen in Graubereichen, die laut Kircher die „Würze des Fußballs” sind. Und auf „Menschen, die wir begleiten, die wir runterbringen aus roten Bereichen”. Kircher tat das häufig mit einer Hand auf der Spielerschulter und mit etwas, das ein bisschen wie ein Spruch aus einem Glückskeks klingt, aber eben zu einem weiteren Knutkircher'schen Markenzeichen wurde: „Ein Lächeln wirkt manchmal Wunder.” Basler kam zum Rauchen in die Schiri-Kabine „Wir treffen 250 bis 300 Entscheidungen pro Spiel”


Von David Libossek
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