Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 06.03.2020 18:01

„Irgendwie ins Ziel kriechen”

Kämpften tapfer   gegen das sibirische Wetter: Tatjana (links) und Viktor Reger (rechts). 	Fotos: privat (Fotos: privat)
Kämpften tapfer gegen das sibirische Wetter: Tatjana (links) und Viktor Reger (rechts). Fotos: privat (Fotos: privat)
Kämpften tapfer gegen das sibirische Wetter: Tatjana (links) und Viktor Reger (rechts). Fotos: privat (Fotos: privat)
Kämpften tapfer gegen das sibirische Wetter: Tatjana (links) und Viktor Reger (rechts). Fotos: privat (Fotos: privat)
Kämpften tapfer gegen das sibirische Wetter: Tatjana (links) und Viktor Reger (rechts). Fotos: privat (Fotos: privat)

Los ging die Reise für das Ehepaar aus Oberbernbach am Mittwoch, 26. Februar. Von München flogen die beiden über Moskau nach Irkutsk. Zum Startort Listwjanka sind es noch einmal eineinhalb Stunden Autofahrt. Bei den Probeläufen auf dem Baikalsee herrschten tags zuvor beste Bedingungen: Wenig Schnee, kaum Wind, Sonne und für Sibirien „milde” Temperaturen von fünf Grad unter Null.

Ein anderes Bild zeigte sich dagegen am Renntag, dem vergangenen Sonntag: Denn neben der Zeitverschiebung von sieben Stunden machte ihnen ein weiteres Problem zu schaffen: Das Wetter, das sich von seiner unschönen Seite zeigte: Starker Wind, Schneefall und schlechte Sicht. Dies hatte zur Folge, dass die Streckenrichtung geändert wurde. Diesmal starteten die Läufer in Listwjanka und liefen nach Tanchoi am anderen Seeufer. Normalerweise führt die Strecke in die entgegengesetzte Richtung. „Die richtige Entscheidung”, findet Viktor Reger. Dank der Änderung kam der Wind von hinten oder der Seite. Anders als vor zwei Jahren, als der Marathon aufgrund von starken Böen abgebrochen werden musste. Damals erreichte kein Teilnehmer das gegenüberliegende Ufer, der Führende wurde einen Kilometer vor dem Ziel aus dem Rennen genommen.

Vor dem Start wartete aber noch ein Brauch auf das Ehepaar: das Milchritual. Dabei tauchen die Athleten den Ringfinger, dieser gilt als der sauberste, in Milch. Diese wird dann zuerst nach Osten und dann in alle Himmelsrichtungen gespritzt. Der Rest wird auf das Eis des Baikalsees gegossen. „So soll der Baikal gnädig gestimmt werden”, erklärt Tatjana Reger, die selbst aus Sibirien stammt.

Am Start machte Viktor Reger noch etwas nachdenklich: „Einige Volontäre sagten, sie hätten hier noch nie so viel Schnee gesehen.” Trotzdem ging es gegen neun Uhr Ortszeit los. Auf den ersten zehn Kilometern kamen die Oberbernbacher passabel voran. Der Neuschnee war durch die Streckenfahrzeuge relativ fest. Das wurde aber mit jedem Kilometer weniger. Schneefall und Wind nahmen immer weiter zu. Die Sicht wurde schlechter. Die Läufer sanken immer tiefer im Schnee ein und taten sich schwer, eine Spur zu finden. „Fast alle sind nur rumgeeiert”, berichtet Viktor Reger. Durch den aufkommenden Wind häuften sich die Schneeverwehungen. „Ich habe zwischenzeitlich meine Füße nicht gesehen”, erläutert der 39-Jährige. Vom Ziel, eine Zeit von rund vier Stunden zu erreichen, musste sich Viktor Reger daher schon früh verabschieden. Der Sturm wütete zu sehr. Orientierung im weißen Nichts boten lediglich rote Fähnchen alle 200 Meter.

So kämpften sich die beiden, jeder im eigenen Tempo, zum Ziel des Halbmarathons: einem Militärzelt mitten auf dem See, das auch als Verpflegungsstation diente. Für Tatjana Reger war dort nach 2:33:50 Stunden der Lauf beendet. Ihr Gatte kam hier gut 20 Minuten vorher vorbei. Aufgrund fehlender Marathonreferenzen war zweifachen Mutter ein längeres Rennen verwehrt worden. Dennoch sei die Oberbernbacherin „froh gewesen”, als sie das Ziel erreichte. Sie bestritt ihren Lauf ohne Gehpausen, obwohl sie wegen einer hartnäckigen Mittelohrentzündung in den Vorwochen nicht trainieren konnte.

Doch auch Viktor Reger überlegte ernsthaft, bei der Halbdistanz auszusteigen: „Ich war schon mit einem Schritt im Zelt. Wenn ich gewusst hätte, was mich nach Kilometer 25 erwartet, hätte ich aufgehört”, erzählt der Schreiner. Denn seine Knie wollten nicht mehr, vor allem das linke. Ab Kilometer 30 waren die Schmerzen so stark, dass Reger zum Gehen gezwungen war. „Ich konnte meine Knie nicht mehr abknicken”, so der Oberbernbacher, der wie seine Mitstreiter wegen des Neuschnees weiter mit dem Finden der Spur zu kämpfen hatte. Langsam machte sich auch die Kälte bemerkbar. „Am Anfang war es mir pudelwarm, aber nach der Hälfte der Strecke war ich froh um jede Schicht”, berichtet der 39-Jährige, dem die sibirische Kälte zu schaffen machte: „Sie kommt hier von unten, vom Eis”, meint Reger. Die minus fünf Grad kämen einem so ganz anders vor als zu Hause.

Meter um Meter arbeitete sich Reger im Schneesturm zum Ziel vor. „Die letzten drei, vier Kilometer waren nur noch Qual. Pro Tritt versank ich bestimmt 20 Zentimeter im Schnee”, erzählt Reger, dem der Schnee auch in die Spikeschuhe lief. „Aber da war eh alles egal. Knie, Wetter, Sicht, Schnee, Zeit. Nur noch irgendwie ins Ziel kriechen.” Das erreichte der Extremläufer schließlich nach 5:16:59 Stunden. „So einen Lauf habe ich noch nicht erlebt. Aber die Erfahrung war Gold wert, wie viel der Untergrund ausmacht”, resümiert Reger, der den Lauf auf Rang 59 beendete. Für Tatjana Reger ging es gar auf das Podest. Sie legte die Halbmarathondistanz in der Frauenkonkurrenz als Drittschnellste zurück. Nach der abendlichen Siegerehrung machten sich die Regers noch in derselben Nacht wieder auf den Weg Richtung Heimat. Schließlich warteten zu Hause schon die beiden Kinder auf sie. Und Viktor Reger stand am Montagnachmittag gar wieder in der eigenen Schreinerei.

Ein kleiner Wermutstropfen bleibt dennoch: „Das ist der einzige Marathon, bei dem man das Ziel eigentlich immer sieht und man ihm trotzdem lange kaum näher kommt. Das blieb uns verwehrt”, lacht der Extremläufer, der im April, diesmal alleine, das nächste Abenteuer angeht: Ein Ultra-Lauf über 250 Kilometer durch die Namib-Wüste in Afrika. Dann wieder auf Sand statt Eis und Schnee. Mit Milch den Baikal gnädig stimmen „Die letzten drei, vier Kilometer waren nur noch Qual”


Von Veit Rettenberger
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