Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 22.07.2021 18:10

Kurz vor der Triage

„Dass wir in Deutschland Patienten nicht behandeln können, kennen wir zum Glück eigentlich nicht”, begann Buyx ihren Vortrag. „Aber wir standen kurz davor.” Während der ersten Welle der Pandemie etwa signalisierten Intensivmediziner der Technischen Universität München: „Eine Stufe können wir noch aufmachen, dann ist Schluss.” Während der zweiten Welle war im Nürnberger Raum im Umkreis von 100 Kilometern kein freies Intensivbett mehr verfügbar. Auch am Augsburger Uniklinikum konnte der Kollaps des Systems nur durch Abverlegungen von Covid-Intensiv-Patienten in andere Häuser verhindert werden. „Das waren auch in ethischer Hinsicht ganz schwierige Situationen”, so Buyx. Während andere Länder anfangs teils das Alter der Patienten zum Kriterium über Behandlung oder Ablehnung machten, sei dies in Deutschland verfassungswidrig und deshalb nicht möglich, erklärte die Medizinethikerin.

Deshalb hatte der Deutsche Ethikrat schon zu Beginn der Pandemie eine Ad-hoc-Empfehlung zur Triagierung abgegeben. „Es gibt zwei mögliche Szenarien: die Ex-ante- oder die Ex-post-Triage”, sagte Buyx. Erstere komme dann zum Tragen, wenn viele Verletzte auf einmal in eine Klinik kommen, in der nur begrenzte Behandlungskapazitäten zur Verfügung stehen. „Der Arzt ist dann verpflichtet, diese so gut wie möglich zu verteilen”, so die Ethikprofessorin. „Aber in so einem Fall kann man eventuell nicht alle retten.”

Ethisch noch herausfordernder sei die Ex-post-Triage. In dem Fall kämen immer mehr Patienten nach. Dann könnten Situationen entstehen, in denen entschieden werden müsste, ob bereits begonnene Behandlungen, zum Beispiel eine Beatmung, zugunsten nachkommender Patienten mit besserer Prognose beendet werden müssten. Für eine solch extrem schwierige Entscheidung gebe es bisher keine gesetzlichen Vorgaben.

Nach dem Vortrag der Ethikrat-Vorsitzenden nahmen Mitarbeiter aus dem ärztlichen, dem Pflege- und dem seelsorgerischen Bereich auf dem Podium Platz, um von ihren Erfahrungen im Corona-Alltag zu berichten. „Von 44 Betten in der Dermatologie haben wir während der Corona-Hochphasen noch ganze 14 betreiben können”, erzählte etwa Dr. Julia Welzel, Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie. „Das bedeutete, ich musste Patienten priorisieren.”

Drei Menschen seien ihr besonders in Erinnerung geblieben. „Da war die 32 Jahre junge Mutter mit schwarzem Hautkrebs, deren Prognose davon abhing, wie schnell wir sie behandeln”, so Welzel. Zudem ein 78 Jahre alter Mann mit zwar weniger bösartigem weißem Hautkrebs, der aber schnell wuchs und sich deutlich sichtbar auf der Nasenwurzel befand. Als drittes eine 45-jährige Bä5ckereifachverkäuferin mit einer Wespengiftallergie, die schon einmal einen allergischen Schock erlitten hatte und dringend hypersensibilisiert werden musste. Klar war es in dem Fall, die junge Mutter zu priorisieren. Die anderen beiden Patienten mussten warten. Der Tumor des 78-Jährigen wuchs aufgrund der Wartezeit mehr als nötig, Eingriff und Outcome wurden dadurch größer beziehungsweise schlechter. Der Verkäuferin konnte bis heute kein Termin angeboten werden, da der Normalbetrieb erst langsam wieder anlaufe. „Das alles hat zwar noch nichts mit Triagierung zu tun”, sagt Welzel, „aber Patienten nicht sofort und auch nicht optimal behandeln zu können, das kannten wir bislang so nicht.”

Auch Pfarrer und Klinikseelsorger Michael Saurler hat verzweifelte Menschen während der Pandemie erlebt. So habe eine Angehörige ihm gegenüber geklagt, jetzt sei ihr Opa auch den sozialen Tod gestorben, weil sich keiner von ihm habe verabschieden können. „Wir haben hier ein nicht lösbares Dilemma, dem aber auch mit Klugheit und Maß begegnet wurde”, sagte Saurler. So habe er erlebt, dass Angehörige von Patienten der Intensivstationen nicht kurz vorm Versterben kontaktiert wurden, sondern vor Einleitung der Beatmung. „Es ist wichtig, dass man noch bewusst Blicke tauschen oder Hände drücken kann”, so Saurler.

Max Strehle, Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung des Universitätsklinikums, betonte in seinem Schlusswort: „Bevor nicht alle Länder dieser Welt die Chance erhalten haben, ihre Bevölkerungen durch zu impfen, gibt es auch für uns keine Sicherheit.” „Ich musste Patienten priorisieren”


Von Ines Lehmann
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