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Aichacher Zeitung Logo„Mein Beruf ist das wiedergefundene Licht” - Die blinde Kirchenmusikerin Helga Trager | Aichacher Zeitung

Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 23.12.2021 17:08

„Mein Beruf ist das wiedergefundene Licht” - Die blinde Kirchenmusikerin Helga Trager

„Die Altomünsterer Orgel   kenn ich in- und auswendig, ein wunderbares Instrument”, schwärmt Helga Trager. Gern zieht die blinde Kirchenmusikerin alle 25 Register, dann klingt die „Königin der Instrumente” besonders feierlich. 	Foto: Wolfgang Glas (Foto: Wolfgang Glas)
„Die Altomünsterer Orgel kenn ich in- und auswendig, ein wunderbares Instrument”, schwärmt Helga Trager. Gern zieht die blinde Kirchenmusikerin alle 25 Register, dann klingt die „Königin der Instrumente” besonders feierlich. Foto: Wolfgang Glas (Foto: Wolfgang Glas)
„Die Altomünsterer Orgel kenn ich in- und auswendig, ein wunderbares Instrument”, schwärmt Helga Trager. Gern zieht die blinde Kirchenmusikerin alle 25 Register, dann klingt die „Königin der Instrumente” besonders feierlich. Foto: Wolfgang Glas (Foto: Wolfgang Glas)
„Die Altomünsterer Orgel kenn ich in- und auswendig, ein wunderbares Instrument”, schwärmt Helga Trager. Gern zieht die blinde Kirchenmusikerin alle 25 Register, dann klingt die „Königin der Instrumente” besonders feierlich. Foto: Wolfgang Glas (Foto: Wolfgang Glas)
„Die Altomünsterer Orgel kenn ich in- und auswendig, ein wunderbares Instrument”, schwärmt Helga Trager. Gern zieht die blinde Kirchenmusikerin alle 25 Register, dann klingt die „Königin der Instrumente” besonders feierlich. Foto: Wolfgang Glas (Foto: Wolfgang Glas)

Für das diesjährige Christfest hat sie die weltbekannte Pastorale aus dem Weihnachtskonzert von Arcangelo Corelli vorbereitet. Wochen brauchte sie, um die barocke Komposition einzustudieren. Sie hatte damit sehr viel mehr Arbeit als andere Musiker. Denn Helga Trager ist blind. Sie kann keine Noten sehen, nicht vom Blatt spielen. Jedes Stück muss sie entweder nach Gehör umsetzen - oder erfühlen. Ihre Musiknoten sind in Blindenschrift erfasst, geprägt in dickes Papier, auf dem man erhabene Strukturen mit den Fingerspitzen ertasten kann.

Allerdings kennt diese Braille-Schrift keine Notensymbole mit Linien, Hälsen und Fähnchen. Stattdessen werden sämtliche Musiksymbole in Buchstaben ausgegeben und in filigranen Punkt-Kombinationen ins Papier gestanzt. Takt um Takt setzt Helga Trager aus diesen Punktmustern zusammen, die für Sehende undeutbar scheinen. „In meinem Kopf entsteht dann ein halbes E auf der linken Hand, vier Achtel auf der rechten, das H als Dreiveiertelnote mit einer Viertelpause im Pedal”, erklärt sie. Der Rest ist: Auswendiglernen. Wie viele Musikstücke, Konzerte und Messen sie sich so schon erarbeitet hat, weiß sie nicht. „Aber Gedächtnistraining werde ich wohl nie brauchen...”

Seit der Grundschulzeit ist Helga Trager blind. Als Fünfjährige stürzte sie. Dabei zersplitterte ihre Brille und verletzte ein Auge irreparabel. Das andere verlor seine Kraft aufgrund einer Krankheit. Mit sieben Jahren war es dunkel um das Mädchen. Das Grün des Grases und das Blau des Himmels waren einem allumfassenden Schwarz gewichen. „Nein, das war damals kein Drama”, erzählt die Frau. „Man wächst halt damit auf. Als Kind ist man ja noch biegsam und nicht in einem bestimmten Fahrwasser drin.”

Dabei war die kleine Helga eine begeisterte Leserin gewesen. „Sehr zum Leidwesen meiner Eltern”, verrät sie. Denn das Madl versteckte sich immer hinterm Vorhang zum Schmökern. Die Volksschule in Pleiskirchen (bei Altötting) besuchte sie noch als Abc-Schützin, ihr Erstklass-Schreibheft hat sie nach wie vor im Schrank.

Ob sie dem Herrgott böse ist wegen ihres Schicksals? „Nein, warum denn?”, fragt sie verwundert. „Gott hat meine Blindheit ja nicht verursacht. Er hat's vielleicht zugelassen.” Diese Vorsehung müssten „wir kleinen Menschenkinder” aber annehmen. „Die göttlichen Vorstellungen übersteigen bei Weitem den menschlichen Verstand.”

Sicher: Ihre Blindheit ist für Helga Trager mit manchem Ungemach verbunden. Eine Tragödie ist sie nicht. „Sie hat dazu geführt, dass ich das bin, was ich bin: Kirchenmusikerin für und vor dem Herrn.” Dieser Beruf sei für sie das „wiedergefundene Licht”.

An der Bayerischen Landesschule für Blinde in München erhielt die Landwirtstochter das Rüstzeug fürs Leben. Sie besuchte die Realschule, lernte Stenotypistin (120 Silben pro Minute schaffte sie) und Phonotypistin. Als solche verfasste sie Schriftstücke nach Diktat auf einer speziellen Schreibmaschine mit Brailleschrift-Tastatur.

Zur Musik kam sie mit zwölf. Ihre Mutter, ihre Patin und die Oma schenkten ihr eine Gitarre zum Geburtstag. Später kam die Flöte dazu, mit 14 dann das Klavier. An die Orgel setzte sich Helga Trager, als sie 16 war - und entdeckte dort die tröstende Kraft und Vollkommenheit der Kirchenmusik. Zwischenzeitlich, erzählt sie, habe sie sogar mit dem Gedanken gespielt, ins Kloster zu gehen. Aber nur kurz. Die Musik gab ihr mehr: fünf Jahre Studium am Richard-Strauß-Konservatorium, zwei Jahre Kirchenmusikstudium, dann Kirchenmusikerin in St. Hedwig in München und St. Johann in Taufkirchen.

In Altomünster ist Helga Trager seit 2003. Pfarrer Wolf Bachbauer holte sie damals in den Ort. Ganz schön aufgeregt sei sie beim Bewerbungsspiel gewesen, erinnert sich die Tastenkünstlerin. „Ich oben an der Orgel, unten die Leute von der Kirchenverwaltung, die zu entscheiden hatten, ob ich gut genug bin für die Stelle.” War sie, auch weil sie, eine Mezzosopranistin, außergewöhnlich gut und glockenrein singen kann. Galt es nur noch den Kirchenchor zu überzeugen. Eine blinde Dirigentin?

Das ist nicht nur für Altomünster eine außergewöhnliche Situation. Doch die Sänger waren begeistert: „Die hört ja alles...”, staunten die Damen und Herren. Ja, sagt Helga Trager, ihr Gehör sei besonders sensibel. Wie das halt so sei bei Menschen, denen ein Sinn abhanden gekommen ist. Die anderen Wahrnehmungen sind dann geschärft, man riecht besser, hört besser, fühlt feiner. Zwar könne sie ihren Sängerinnen und Sängern nicht in die Augen und auf den Mund schauen, doch sie erkennt jeden einzelnen an der Stimme. Und weiß natürlich auch, wer gerade im Tenor eine Viertelnote zu tief gesungen und wer im Alt den Einsatz verpatzt hat...

Kinderchor, Jugendchor und Kirchenchor leitete die Dirigentin vor Corona. Momentan kann aber nur in kleinen Gruppen musiziert werden. In Kontakt bleibt sie mit ihren Leuten übers Telefon und online. Sie hat in ihrer Wohnung einen Computer mit Vorlesefunktion stehen, an dem sie E-Mails empfängt. Mit ihrem „Pronto”, einem Organizer für Blinde, führt sie ihren Terminkalender und verschickt die Liederpläne für den nächsten Gottesdienst an den Pfarrer. Am PC, der mit einer Braille-Zeile, einer Tasttatur für Blindenschrift, ausgestattet ist, arrangiert sie Lieder für den Gottesdienst und Chorsätze - oder sie lässt sich aus konventionellen Partituren die Stimmen diktieren, die sie dann in Blindenschrift übersetzt.

In Altomünster ist Helga Trager längst heimisch geworden. Sie geht einkaufen beim Bäcker und Metzger, macht regelmäßig Spaziergänge zum Kalvarienberg hoch. Ihre früherere Sehnsucht nach München, nach der Stadt, die sie immer noch gerne mit der S-Bahn besucht, ist verflogen. „Ich bin so froh, hier auf dem Land zu sein, wo man Platz und Luft und Ruhe hat und manchmal auch mit jemandem ratschen kann”, sagt die 53-Jährige. Ein bisserl erinnert der Ort sie an ihre Heimat. Dort, im 2500-Seelen-Ort Pleiskirchen, erlebte sie auf dem Bauernhof ihre frühe Kindheit zusammen mit drei Schwestern und einem Bruder. „Pferdenarrisch” sei sie gewesen, drei Lieblingsrösser hatte sie: Cora, Niko und Valentin. Heute führt eine Schwester das Anwesen, einen Biohof mit Ochsenzucht. Ein paar Mal im Jahr besucht Helga Trager die Familie. „Wenn ich sehen tät”, sinniert sie, „würde ich heute wahrscheinlich Bulldog fahren und Kühe melken.” „Wenn ich sehen tät, würd' ich Bulldog fahren und Kühe melken”


Von Wolfgang Glas
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