Es war nur eine Kiste. Nicht groß, aber auch nicht klein. Sie wirkte alt. Und stach Oberstudienrätin Katharina Dollinger irgendwie ins Auge, als sie sie bei ihrem Lieblingströdler in Pöttmes entdeckte. Sie hob den Deckel, sah kurz rein: Alles voll mit Briefen. Die Lehrerin, die am DHG Deutsch und evangelische Religion unterrichtet, griff zu. Sie hatte den richtigen Riecher. Die Kiste barg einen wahren Schatz: Etwa 500 Briefe, Fotos und sogar Medaillons und Rosenkränze. So entstand die Idee für das P-Seminar „Briefe”. Zehn Schülerinnen und zwei Schüler schrieben sich dafür ein. Sie lernten zunächst, wie Abiturientin Jana Küster, die durch den Abend führte, verriet, „wie die Erstklässler wieder neu Schreiben und Lesen.” Denn die Briefe waren in Sütterlin und Kurrent verfasst. Die Schüler transkribierten die Briefe in die heute gängige Schrift. Und es gelang ihnen, anhand des Materials und mit Hilfe des Internets, Ahnenforschung zu betreiben und den Stammbaum der Familie Steidle zu erstellen. Im Zentrum stehen Marie, geborene von Capitain (1871-1948), und Eduard Steidle (1863-1941). Die beiden heiraten 1895, sie bekommen zwei Söhne und zwei Töchter. Marie berichtet im Jahr vor der Hochzeit ihrer Mutter, Rosalie von Capitain, von einem Besuch im Würzburger Haus ihres Zukünftigen, den sie „Edu” nennt. „Edu hat ein schweres Leben. Papa ist sehr schwierig, und alle Mitglieder des Hauses leiden darunter. Wenn ich komme, werde ich viel auszuhalten haben”, schreibt die 23-Jährige. Doch der künftige Schwiegervater habe einen Narren an ihr gefressen, freut sie sich. Deutlich wird die große Bedeutung des Glaubens. Man besuchte beispielsweise eine Wallfahrtskirche. „Wir brauchen den lieben Gott so sehr”, meint Marie. Die Schüler lesen an diesem Abend schwärmerische Zeilen des verliebten Edu an seine „heißgeliebte Marie”, „mein angebetetes Weib”, ebenso wie ergreifende Schreiben seiner Töchter an ihn, die ihn schmerzlich vermissen, als er im Ersten Weltkrieg Soldat ist. Und es gibt Briefe von der Front, aus beiden verheerenden Kriegen. So erhalten die Zuhörer den Eindruck, die Familienmitglieder zu kennen. Im Kaiserreich erfuhr die Wirtschaft Ende des 19. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung, gleichzeitig stieg die außenpolitische Aggression und der Nationalstolz nahm zu. Äußerst gelungen sind auch die Sequenzen zwischen den Lesungen, wenn Bilder der Familie eingeblendet werden und Musiklehrerin Helga Fritscher dazu am Klavier improvisiert. Die vielleicht geschichtsträchtigsten Briefe erzählen, wie Edus Sohn Luitpold die Politik erlebt. Luitpold Steidle, der in München aufwuchs, trat zunächst der NSDAP bei, wurde dann aber ausgeschlossen und als erklärter Gegener Hitlers sogar in Abwesenheit - er geriet in russische Gefangenschaft - zum Tode verurteilt. Der studierte Landwirt berichtet vom Grauen an der Ostfront, das er als Regimentskommandeur der bei Stalingrad geschlagenen Paulus-Armee erlebt, von Luftkämpfen und Panzern und kämpfenden Menschen, „vom Wahnsinn verführt”, die „lieber zu Hause ihrem Handwerk nachgehen würden”, fügt aber auch private Bemerkungen ein, wie die, dass es bei ihm in Sachen „Läusewäsche des Doktors” noch nicht soweit sei. Er schreibt, dass ein Ehrenfriedhof für die Gefallenen angelegt wurde, von denen er einige persönlich gut kannte. Luitpold Steidle war Gründungsmitglied des Bunds Deutscher Offiziere, wurde später Abgeordneter der Volkskammer der DDR, brachte es zum Arbeits- und Gesundheitsminister und war danach bis zu seiner Pensionierung Oberbürgermeister von Weimar. Schulleiterin Renate Schöffer und die anwesenden Lehrer zeigten sich am Ende des Abends wie die übrigen Besucher begeistert und ergriffen von der Leistung des P-Seminars. Hier sei etwas gelungen, meinte eine Lehrerin, wie es nur sehr selten vorkomme.