Dreieinhalb Stunden nach Schabowskis Ankündigung wurde in der Hauptstadt der erste Grenzübergang geöffnet. Tausende drängten zu Fuß oder in ihren Zweitaktern ins kapitalistische Westberlin. Und im Aichacher Landratsamt tagte der Krisenstab. Landrat Theo Körner hatte ihn einberufen. Erwartet wurde eine Flut von Neuankömmlingen, die sich im wohlhabenden Wittelsbacher Land niederlassen wollen. Die Regierung von Schwaben suchte fieberhaft nach Notunterkünften, am liebsten Turnhallen und Schulsäle. Elisabeth Strobl, die Aussiedlerbeauftragte des Landratsamtes, meinte, sie sei „seelisch und moralisch darauf vorbereitet”, dass erheblich mehr DDR-Flüchtlinge kämen als bisher. Tatsächlich lebten im Herbst 1989 bereits 150 Ex-Bürger der Deutschen Demokratischen Republik im Landkreis Aichach-Friedberg. Es waren Menschen, die über Ungarn nach Österreich und von dort in die Bundesrepublik geflohen waren (Ungarn hatte seine Grenzzäune in den Westen bereits am 12. September 1989 niedergerissen). Je 50 Geflüchtete wohnten in Aichach und Friedberg, elf in Affing, neun in Rehling und Kühbach. In Kissing war das Gasthaus Gunzenlee in ein Notquartier für 20 Bewohner umgerüstet worden. Kurzzeitig dachte man daran, in den leerstehenden Tanzsaal des Griesbeckerzeller Gasthauses Gerbl Wände einzuziehen und Unterschlupf für Familien zu schaffen. Nicht wenige befürchteten Verhältnisse wie 1946, als Hunderttausende Vertriebene aus dem Sudetenland, Ostpreußen und Schlesien nach Deutschland kamen. Die heimatlos Gewordenen stellten 1947 ein Drittel der Bevölkerung im Aichacher Land. Hausbesitzer wurden gezwungen, Flüchtlinge aufzunehmen uns sie bei sich wohnen zu lassen. So weit kam es 1989 längst nicht. Anders als Augsburg - dort wurden tatsächlich Zwangseinquartierungen diskutiert, weil die Notunterkünfte für die 2000 DDR-Aussiedler nicht reichten - waren das Wittelsbacher und Altomünsterer Land wenig interessant. Besucher, die kamen, hatten meist Verwandte hier und fuhren bald wieder zurück in den Osten. Am Landratsamt in Aichach war am Wochenende des 11. und 12. Novembers zwar ein Notdienst eingerichtet, der die 100 D-Mark Begrüßungsgeld auszahlte, die jedem DDR-Bürger im Westen zustanden. Doch in den fünf Stunden, die die Behörde zusätzlich öffnete, flossen gerade mal 1100 Mark an vier Familien mit elf Personen.