Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 15.12.2017 12:00

Die schweigenden Sprecher: Zu Besuch bei Autisten

TASS steht für Tagesstruktur für Menschen aus dem Autismusspektrum. Alle 20 Personen, die in zwei Häusern in Aichach in Kleingruppen betreut werden, haben eine andere Wahrnehmungsstruktur und sie können sich nicht oder kaum sprachlich artikulieren. Die Erscheinungsformen sind aber höchst unterschiedlich.

Was nicht heißt, dass Autisten nicht kommunizieren oder, wie manche Menschen meinen, geistig behindert sind. Ihr Gehirn funktioniert aufgrund von neurologischen Unterschieden anders. Sie verarbeiten Sinneseindrücke anders, ihr soziales Verhalten ist anders, ebenso ihre Wahrnehmung der Umwelt. Das kann zu irritierendem Verhalten und verstörten Reaktionen bei anderen Menschen führen. Autismus ist eine Herausforderung für beide Seiten.

Wer das Haus an der Donauwörther Straße betritt, wo zwölf TASS-Klienten betreut werden, kann es auf den ersten Blick nicht von anderen Häusern, in denen eine Familie lebt, unterscheiden. Allerdings schauen die zwei jungen Männer im Erdgeschoß weg, nehmen den Besucher zunächst nicht wahr - oder dem kommt es zumindest so vor. Von 8 bis 16 Uhr sind die Betreuten hier. Sie können nicht in den Ulrichs-Werkstätten arbeiten, wohnen bei ihren Eltern oder im Wohnheim der Lebenshilfe am Plattenberg und beschäftigen sich bei TASS mit unterschiedlichsten Dingen. „Wir trainieren Handlungsabläufe aus dem alltäglichen Bereich, es gibt Kunstprojekte und viele andere Aktivitäten”, erzählt Seidl-Wiessner, die Leiterin der Einrichtung. Eine wichtige Rolle spielt auch Sport, zum Beispiel Schwimmen, Reiten, Fitness oder auch Walken. Durch ihre andere Wahrnehmung der Umwelt stehen Autisten oft sehr unter Stress und Spannungen, Sport hilft, damit zurechtzukommen.

Es gibt aber auch eine politische Diskussionsrunde und eine Schreib-Werkstatt. Gerade dabei sind Computer hilfreich. Es muss kein zweiter Betreuer, wie bei den Holztafeln, mitschreiben, die Betreuten können besser untereinander kommunizieren und sind mit den transportablen Laptops mobiler. Das ist mit dem fest installierten Computer, an dem ein Großtastatur installiert ist, nicht möglich.Während die Leiterin dem Besucher das alles erzählt, sitzen Andreas und sein Freund, der ebenfalls Andi heißt, am Tisch und beteiligen sich jetzt am Gespräch - unterstützt von Brigitte Seidl-Wiessner. „Gut beobachtet”, wird der Besucher gelobt, als er über die flotte Geschwindigkeit der gestützten Kommunikation (FC) staunt. Als Andi einmal sehr laut lacht, erklärt er : „Freude ist manchmal laut, Trauer auch.” Später, als der Besucher einen Kaffee bekommt, bitte er auch um einen. Seidl-Wiessner schmunzelt: Normalerweise ist nach dem Frühstücks-Kaffee für Andi Schluss, sonst kann er nicht schlafen. Heute ist eine Ausnahme, und der Besucher schenkt ihm eine Tasse ein.

Die Sprache von Autisten ist mitunter sehr poetisch, kreativ, voller Wortneuschöpfungen. Der andere Andi nennt seine jüngeren Geschwister zum Beispiel „newsters”, also „new sisters”.

Er sitzt später am Computer und erklärt beeindruckend, welche Bedeutung die gewünschten Laptops und andere Hilfsmittel haben: „Ich möchte gerne so up to date sein wie meine newsters, die lernen, mit modernen Medien zu kommunizieren, und ich trommle auf der Holztafel wie in der Steinzeit.” Junge Menschen wollen im 21. Jahrhundert leben, auch wenn sie Autisten sind.

Die beiden führen mit Hilfe ihrer Betreuerin auch andere Hilfen vor: Etwa ein Reha-Talk-Pad mit entsprechenden Apps. Dort sind Symbole und Icons abgebildet, tippt man darauf, hört man eine gespeicherte Nachricht. Etwa: „Ich möchte Marmelade”, oder „Ich trage den Müll raus”. Wichtig für die Betreuten, die im Rahmen eines Projekts in dem Friedberger Restaurant Kussmühle arbeiten. Mit Geräten wie dem Talk-Pads werden Autisten unabhängiger, flexibler und können auch ohne einen „Unterstützer” kommunizieren.

Unverständlich, ja ein Skandal ist, dass es für solche essentiellen Hilfen kein Geld vom Staat gibt, TASS ist auf Spenden angewiesen. Und ein Reha-Talk-Pad kostet immerhin 3500 Euro. Ansonsten müssten die Autisten weiter schweigen oder auf Holztafeln herumtrommeln.

Als der Besucher geht, verabschieden sich die Andis und auch Sara, die gerade in der Küche hilft, mit einem Händedruck. Man hat miteinander gesprochen, sich kennen gelernt, alles ganz „normal” also, und doch sehr anders. Damit das Sprechen mit den Schweigenden leichter wird, sind Computer, Laptops und Pads aber dringend notwendig. Zum Abschluss tippt einer der beiden Freunde auf der Großtastatur: „Ich bitte darum, uns zu unterstützen.” Manchmal wird Sprache neu erfunden: „newsters” sind jüngere Geschwister


Von Berndt Herrmann
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