Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 15.10.2021 16:16

Vergessene Orte: Es war einmal ein Schulhaus

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Der Anbau war schon weg, als die Bagger am 9. Oktober 2010 zum letzten Akt anrückten. Der Abriss begann oben: Mit Spitzhacke und Hammer bearbeiteten die Mitarbeiter von Josef Balleis den Kamin, dann ließ er sich leicht umschubsen und landete auf dem halb abgesperrten Mühlweg. Von der Nordseite machte sich der Bagger ans Werk und entfernte Stück für Stück die gesamte Wand vom Dachstuhl bis zum Erdgeschoss. Um das Dach zu stabilisieren und zu verhindern, dass der Dachstuhl auf die Staatsstraße kippt, hielt ihn ein zweiter Bagger. Als die beiden Decken brachen, war es, als flögen tausende von Papierschnipseln aus den Fensterlöchern. Danach griff der Bagger noch ein paar Mal in die Westseite - und mit einem Schlag krachte das Gebäude in sich zusammen, eine große Staubwolke blies sich von unten her auf und nebelte die mittlerweile zahlreichen Schaulustigen ein. „Mei, wos hom mir do drin Tatzen griagt”, erinnerte sich eine Passantin. Das Treppenhaus und die Ostfassade hatten den Zusammenbruch überlebt. Rund eine Stunde lang wurden die Überreste der Schulsäle weggeräumt, um auch das Treppenhaus auf die Westseite fallen lassen zu können. Doch das blieb zäh: Um es zum Einsturz zu bringen, musste Josef Balleis mit seinem Bagger mehrmals gegen das Mauerwerk fahren - keine leichte Aufgabe.”Die Tür war schon drin, als ich eingeschult wurde”, erinnert sich Walburga Klötzl noch heute. An Ostern 1940 war das, erst ein Jahr später wurde der Schulbeginn in Bayern auf den September verlegt. Die Klassen eins bis vier wurden im unteren Schulsaal unterrichtet, die großen oben. Nach dem Krieg wurde auch das „Haus der Bildung” nebenan, wo heute die Sparkasse steht, wieder genutzt: Viele Kinder kamen als Heimatvertriebene und Flüchtlinge nach Affing. Auch Willi Kosub ging im Haus der Bildung, wie die alte Schule ursprünglich hieß, zur Schule. In der zweiten Klasse, 1957, wechselte er in den neu erbauten Anbau am Schulsälehaus bevor er ab der dritten Klasse im 1b unterrichtet wurde. „Mit Hilfe von Oberlehrer Thiele wurde im Jahre 1906 das Schulsälehaus (zwei Unterrichtsräume mit Aborten) zwischen dem Doktorhaus und der alten Schule gebaut”, heißt es in der Affinger Ortschronik von Josef Lindinger. Die Pläne für den Bau stammten vom Distrikttechniker Sigmund Hagl aus Aichach. Wie Architekt Manfred Lux in seiner Ortskernentwicklungsstudie 2010 festhielt, basierte der Grundriss ebenso wie der vertikale Aufriss auf dem Maßsystem des bayerischen Backsteins (39 mal 14 mal 6,5 Zentimeter). „Die Form des Quadrats definiert das Gestaltungssystem. Das Aufbrechen der Quadratform im Treppenhausbereich macht aus der gleichmäßigen Struktur ein spannendes Gebilde. Zwei hohe Vollgeschosse und der steile Dachkörper lassen das Gebäude am Schlossplatz selbstbewusst erscheinen”, schrieb Lux damals. Auch die alte Schule (heutige Sparkasse) wurde 1906 umgebaut: Oben entstand eine Lehrerwohnung, eine Magdkammer, ein Hilfslehrerzimmer und unten ein Gemeindezimmer. Laut Ortschronik kostete der Neubau des Schulsälehauses zusammen mit den Umbauten im Haus der Bildung 19 510 Mark, von denen Max Kasimir Freiherr von Gravenreuth 5000 Mark bezahlte. Geheizt wurde mit Holz, das manchmal knapp war, wie sich Walburga Klötzl erinnert. Dann mussten die Kinder welches mitbringen. „Unter der Treppe, bei den Garderobenhaken zum Jackenaufhängen, gab es ein Fenster. Weil es da nicht so weit runterging, war das bei den Nachsitzern sehr beliebt - sie gingen stiften”, erzählt Klötzl. 1956 unter Hauptlehrer Pazian plante die Gemeinde einen Klassenzimmeranbau an das Schulsälehaus. „Da der Untergrund an dieser Stelle sehr sumpfig ist, mußten zahlreiche Betonpfähle unter den Kellerboden eingebracht werden”, heißt es in der Ortschronik. Doch schon bald gingen die Bauarbeiten in der Affinger Ortsmitte weiter. Wegen Wohnungsmangel drohte Anfang der 1960er ein „Lehrermangel”, so war die Gemeinde gezwungen, ein Lehrerwohnhaus zu bauen - die heutige Gemeindeverwaltung. Gleich daneben startete wenige Jahre später der Schulneubau für vier Klassenzimmer. „Wochenlanger Regen behinderte am Bach die Erdarbeiten”, schreibt Lindinger in der Ortschronik. Ende 1965 konnte endlich Hebauf gefeiert werden, am 6. Oktober 1966 wurde das neue Schulhaus auf dem ehemaligen Fußballplatz eingeweiht. Die Kosten beliefen sich auf rund 711 000 D-Mark. Im Keller gab es Bastelräume, eine Schulküche und eine zentrale Heizungsanlage. „Ferner wurden”, laut Ortschronik, „eine Fernsprech-, eine Uhren-, eine Alarm-, eine Lautsprecheranlage für alle Klassenzimmer sowie eine Antennenanlage für das Schulfernsehen mit Fernseher installiert.” Mit dem Neubau wurde es langsam ruhiger um das Schulsälehaus am Schlossplatz. Allerdings nutzten es die Kinder teilweise für den Sportunterricht. „Wir ham' da drin auch Fußball gespielt”, erinnert sich Willi Kosub. Später stand er dort beim FC Affing an der Tischtennisplatte, von 1975 bis 1976 im Schulsälehaus, danach bis 1982 im Anbau. Der diente dem FC Affing ab 1980 als Sportheim, die Umkleiden waren im Keller. Denn das bisherige Sportheim musste dem Neubau der Mehrzweckhalle weichen. Eigentlich sollte das Gastspiel der Sportler im Anbau nicht allzu lange dauern. Schon 1989 waren die Pläne für ein Sportheim am Hauptspielfeld abgeschlossen. Doch die Auflagen des Landratsamtes waren nicht zu stemmen. 200 Meter weiter fand der FC Affing einen neuen Standort, wieder standen die Sportler kurz vor Baubeginn, als man vor dem Verwaltungsgericht scheiterte. „Anfang 1996 entschieden die Verantwortlichen, wegen der enormen Auflagen und der konkreten Aussicht auf einen besseren Standort außerhalb von Affing, die zweite Planung aufzugeben”, heißt es in der Chronik des FC Affing zum 60-jährigen Bestehen. Nach fünf Jahren Bauzeit wurde die neue Sportanlage 2002 am Waldrand eingeweiht. Der Anbau war damit wieder frei. Das machten sich einige andere Vereine zunutze: Der Theaterverein zog ein, schon vorher hatte der Weizenclub das Gebäude mit Vorplatz zum jährlichen Sauessen genutzt, die Damen des Gartenbauvereins bereiteten ihre Rahmflecken für den Weihnachtsmarkt dort vor, und auch zum Wählen gingen die Affinger in den Anbau. Im alten Schulhaus waren Vereinsfahnen untergebracht, der Kirchenchor probte in den ehemaligen Klassenzimmern. Bis 1994 das Pfarrheim fertig war. Das alte Schulhaus stand so gut wie leer, die Tür diente als allgemeine Anschlagtafel für Veranstaltungen jeglicher Art. Auch die Landjugend durfte ins neue Pfarrheim. Doch weil neue Räume und Jugendliche selten gut zusammenpassen, hatte die KLJB eine andere Idee: Aus dem alten Schulhaus sollte ein Jugendtreff werden. Mit einer großen Silvesterparty wurde er 1996 eingeweiht. Danach hatte das Café-1b jeden Freitag geöffnet. Zuvor war allerdings viel zu tun: Die Wände wurden teilverputzt und in Flammen-Optik gestrichen, ein „Riesen-Bibbala” prangte an der Wand, eine Art Küche wurde eingebaut, Tische gezimmert und eine schiefe Bar errichtet - um jedem die passende Höhe zu bieten. Die Eigeninitiative der Jugendlichen wurde von der Diözese mit dem Bischof-Simpert-Preis gewürdigt. 1997 wurde „Deutschlands größte Baustelle” auch draußen sichtbar: Um den „Schandfleck”, wie viele die alte Schule inzwischen bezeichneten, zu beheben, renovierte die Landjugend die Außenfassade des 1b. 2004 wurde im 1b samt Anbau die „wirklich aller letzte Party” gefeiert, bevor die Landjugend ins neue Jugendheim nach Gebenhofen zog. Im Anbau spielte Live-Musik, im 1b tobte die Beach-Party auf beheiztem Sand. Das 1b blieb Lager für die KLJB - und wurde doch nocheinmal zur Feierstätte: Weil der Affinger Wirt jedes Jahr nach dem Weihnachtsmarkt schier aus allen Nähten platzte, versuchte es die Landjugend mit Weihnachtsmarktpartys. Von 2005 bis 2009 ließen Jung und Alt dort den Markt ausklingen. Je älter die alte Schule wurde, desto mehr stritten die Affinger über ihre Zukunft. Im März 2006 entschieden 69,7 Prozent der Wahlberechtigten in einem Bürgerentscheid, dass das Grundstück für den Bau eines Rathauses freigehalten - und damit nicht mit einem Feuerwehrhaus überbaut werden soll. Das steht seit einigen Jahren an der von-Gravenreuth-Straße. Doch was nun anfangen mit dem alten Schulhaus? Eine Bürgerwerkstatt erarbeitete 2007 erste Ideen für den Ortskern, 2010 folgte eine Machbarkeitsstudie, die es als möglich einstufte, die Schule zu sanieren, mit einem modernen Anbau zu versehen und als Rathaus zu nutzen. Das war eine Variante. Der Gemeinderat entschied sich im Juli 2010 mit 2:18 Stimmen dagegen, im Oktober folgte der Abriss. Die Tür allerdings zog weiter und wurde ein Tisch - im 2b. So heißt das alte Feuerwehrhaus am Schlossplatz, wo Theaterverein, Volkstanzgruppe und Landjugend eine neue Heimat gefunden haben. Die Rathauspläne liegen längst auf Eis, über die Sache ist Gras gewachsen. Zumindest stellenweise: auf dem Parkplatz, wo früher mitten im Ort das Schulsälehaus thronte. Sie glauben irgendetwas stimmt hier nicht? Sie haben natürlich recht: Die Tür im Bild oben steht verkehrt herum! Viele Baustellen im Affinger Ortskern

Das Schulsälehaus auf einer Postkarte von 1931. In all den Jahren wurde kaum etwas am Gebäude verändert. Dahinter sind das Kipp-Haus (Doktor-Haus) und die Michaelskapelle zu sehen.


Von Verena Heisserer
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