Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 12.04.2018 12:58

Wie steht es um die Politikverdrossenheit in Deutschland?

Dieser Tage ist das Wort „Politikverdrossenheit” in aller Munde. Immer mehr Menschen wenden sich enttäuscht von ihrer bisherigen politischen Heimat ab und

. Woran liegt das?

Werteverlust auf politischer Ebene

Oftmals beklagen die Bürger, dass die Parteiprogramme vor schwammigen Formulierungen nur so strotzen würden und Politiker sich häufig hinter Gemeinplätzen verstecken. Die ursprünglichen Werte der Parteien würden allmählich erodieren. Solch ein Profilverlust lässt sich nur schwer abstreiten, wenn man konsta

tiert, dass sich die Haltung zweier Parteien bei vielen Themen nicht mehr klar voneinander abgrenzen lässt, obwohl sie sich im Parteienspektrum oft sogar gegenüberstehen. Ein Beispiel dafür erkennen viele in den über Wochen gelaufenen, am Ende aber erfolglosen Koalitionsverhandlungen von Union, FDP und Grünen, die in den letzten Monaten dem wahrgenommenen Profilverlust noch einmal Vorschub geleistet haben. Unter der Prämisse „ergebnisoffener Verhandlungen” hätte das politisches Ringen am Ende mitunter zu einem Ergebnis geführt, das letztlich die Wähler beider Volksparteien enttäuscht haben dürfte. „Jamaika-Aus” wurde folglich zum Wort des Jahres 2017. Und noch bevor eine solche Regierung überhaupt zustande gekommen war, wurde allein die Annäherung der politischen Gegner in den Verhandlungen von vielen Kommentatoren und auch Bürgern mit Hohn überzogen.

Sinkender Einfluss der großen Volksparteien

Mit Ausnahme der grünen Bewegung in den 80er-Jahren hat die bundesdeutsche Parteienlandschaft in der historischen Betrachtung wenig Dynamik gehabt. Die beiden großen deutschen Volksparteien, SPD und CDU, prägten (zusammen mit der kleineren FDP) seit den 50er-Jahren das Bild bundesdeutscher Regierungen. Bei Bundestagswahlen erhielten sie typischerweise jeweils um die 40 Prozent. In den letzten Jahren hat sich dies stark verändert: Bei der letzten Bundestagswahl

, das ihr einstiges Selbstverständnis als große Volkspartei infrage stellt.

Sinkende Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung gilt als Messwert für den Grad der Politikverdrossenheit in einem Land. Bei der letzten Bundestagswahl lag sie bei gut 75 Prozent. Diese Zahl ist zwar keineswegs so alarmierend hoch wie jene der Wahlbeteiligung der letzten Europawahlen im Jahr 2014: 43 Prozent. Dennoch ist sie der jüngste Meilenstein

eines Abwärtstrends, welcher nach der Wiedervereinigung eingesetzt hat. Die historischen Höchstwerte von über 90 Prozent in den 80er-Jahren sehen im Vergleich wie eine demokratische Utopie aus(mehr Statistiken bei

).

Eine Ursache der Politikverdrossenheit scheint darin zu liegen, dass viele Bürger das Gefühl haben, keinen wirklichen Einfluss mehr auf die Richtung zu haben, in welche Deutschland durch die Regierungen gelenkt wird. Auch in der EU wird dieser Befund diskutiert, vielerorts in Europa werden direktdemokratische Elemente als Allheilmittel für die Abkehr von politischen Prozessen angepriesen. Auch in Deutschland hat es auf kommunaler Ebene seit den 90er-Jahren solche direktdemokratischen Verfahren in Form von

gegeben; auf Bundesebene finden sie sich jedoch nach wie vor nicht. Gerne wird dies mit den historischen Lehren begründet, die man aus der Zeit der Weimarer Republik ziehen könne, auch wenn sich diese Aussage bei näherer Betrachtung

.

Sind die Bürger mit der ihnen zukommenden Entscheidungsverantwortung überfordert? Können komplexe Sachverhalte so heruntergebrochen werden, dass sie sich mit einem „Ja” oder „Nein” beantworten lassen? Schädigen mehr direktdemokratische Elemente die traditionellen Kompromisslösungen politischer Koalitionen? Wird Deutschland auf diese Weise gar völlig unregierbar? Wer sich diese Fragen tatsächlich stellt, sollte die aktuelle politische Lage auch ehrlich beurteilen. Wenn die beiden ehemals großen Parteien nach langem Ringen den unkonkreten GroKo-Kompromiss als „großen Erfolg” feiern, nur um Neuwahlen zu umgehen, lässt sich der Frust vieler Bürger erahnen. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass auch direktdemokratische Entscheidungsprozesse mündige, engagierte Bürger voraussetzen. Vielleicht sogar in noch größeren Maße.

north