Der Jahresrückblick 2023 der Aichacher Zeitung
Veröffentlicht am 15.12.2016 12:00

Ringen: Besmelabis schwerster Kampf

Der Anfang vom Ende   für den Ungarn Milan Nyiri. Obaidullah Besmelabi hebt ihn aus und wird ihn gleich aufs Kreuz legen.
Der Anfang vom Ende für den Ungarn Milan Nyiri. Obaidullah Besmelabi hebt ihn aus und wird ihn gleich aufs Kreuz legen.
Der Anfang vom Ende für den Ungarn Milan Nyiri. Obaidullah Besmelabi hebt ihn aus und wird ihn gleich aufs Kreuz legen.
Der Anfang vom Ende für den Ungarn Milan Nyiri. Obaidullah Besmelabi hebt ihn aus und wird ihn gleich aufs Kreuz legen.
Der Anfang vom Ende für den Ungarn Milan Nyiri. Obaidullah Besmelabi hebt ihn aus und wird ihn gleich aufs Kreuz legen.

Beim letzten Heimauftritt der TSV-Staffel in dieser Saison gegen Landesligameister Anger 2 hat der kleine Afghane natürlich wieder gewonnen in der leichtesten Gewichtsklasse bis 57 Kilo. Aber diesmal hat der Asylbewerber länger gebraucht als gewöhnlich. Der Ungar Milan Nyiri ist ein hartnäckiger Widersacher. Nyiri hat für Anger 1 schon in der 2. Liga gekämpft. Als ihn Besmelabi aber nach vier Minuten in dieser Auseinandersetzung im griechisch-römischen Stil aushebt, ist es um den Magyaren geschehen. Kurz darauf liegt Nyiri auf den Schultern. Die Aichacher Ringerfans, die in den vergangenen Jahren immer weniger geworden sind, feiern Besmelabi. Der ist stolz und glücklich: „Jeder sagt, Obaid ist ein Aichacher, und er ist der beste Aichacher. Egal, wer kommt, ich bezwinge jeden.” Eine Woche später gewinnt Besmelabi auch in Willmering; seit er für den TSV Aichach auf der Matte steht, hat er in der Landesliga noch nicht verloren, bei seinen 28 Siegen holte er 17 Mal vier Punkte.

Besmelabi, sunnitischer Moslem wie vier Fünftel der 33 Millionen Afghanen (der Rest in der islamischen Republik sind Schiiten) ist besessen vom Ringen. Wenn die Punktrunde vorbei ist, würde er am liebsten an jedem Wochenende zu irgendeinem Turnier in der Republik fahren, sagt Peter Thurner. Der 67-Jährige hat zwar offiziell kein Amt bei den TSV-Ringern, ist aber ihr wichtigster Mann, weshalb ihn Trainer Oguz Özdemir liebevoll „Thurner-Papa” nennt. Thurner ist auch dabei, als Besmelabi vor einer Trainingseinheit im hinteren Teil der Vierfachhalle seine Geschichte von jenseits der Matte erzählt - die eines aus Todesangst aus seinem Heimatland Fliehenden. Oguz Özdemir fungiert als Dolmetscher. Die beiden unterhalten sich auf Türkisch. Besmelabi machte auf seiner Flucht ein Jahr in Istanbul Station, um sich Geld für den weiteren Weg zu verdienen. Am Bosporus lernte er Türkisch. Außerdem hat er in Aichach viele türkische Freunde, das verbessert seine Kenntnisse in dieser Sprache stetig. Besmelabi kann ein paar Brocken Englisch und ein paar Brocken Deutsch. Ein Deutsch-Kurs sei dem Asylbewerber von den Behörden noch nie angeboten worden, sagt Thurner, der sich um Besmelabis Belange kümmert. Seine kargen Deutsch-Kenntnisse hätten ihm „Ringer-Muttis” beigebracht.

Besmelabis Muttersprache ist das mit dem persischen Dari verwandte Paschai. Er stammt aus der afghanischen Provinz Kapisa nordöstlich der Hauptstadt Kabul. So steht es im Dokument, das ihm bei seiner Ankunft in Deutschland im Sommer 2015 ausgestellt wird. Besmelabi ist 19, am 31. Dezember wird er laut seinen Papieren 20. Kapisa, erzählt er, sei eine Hochburg der Taliban. Die radikalen Islamisten rekrutierten dort Selbstmordattentäter. Besmelabi gehörte zu den „Auserwählten”. Die Taliban verschleppten ihn nach Pakistan, wo er auf seinen Einsatz gegen „Ungläubige” vorbereitet werden sollte. Als er sich aus dem Staub machen will, stechen ihn die Gotteskrieger fast ab. Als Beweis zieht er den grauen Pullover hoch und zeigt seinen Rücken. Den ziert auf halber Höhe eine prominente Narbe. Im zweiten Versuch gelingt es ihm dann doch, aus dem Internierungslager der Taliban abzuhauen. Er schleicht sich zurück nach Kapisa. Seine herzkranke Mutter - der Vater ist schon länger tot - bestärkt ihn zu fliehen, wenn er weiterleben wolle. Zurück bleibt 2013 auch sein älterer Bruder, der dem 16-Jährigen Geld mitgibt für die ersten Etappen der Flucht.

Besmelabi fährt zunächst in den angrenzenden Iran, wo er Arbeit findet und viel ringen kann, was seiner sportlichen Karriere förderlich ist. Im Mullah-Staat hält er es aber nur ein Jahr aus, weil er immer wieder Prügel bezieht. Die schiitischen Perser mögen die sunnitischen Afghanen nicht. Indem er Grenzposten schmiert, reist der junge Mann illegal in die Türkei ein. Per Autostopp schlägt er sich durch bis nach Istanbul. In der 15-Millionen-Metropole hat er zwar einen Job, aber keine Möglichkeit zu ringen, was der Bosporus-kundige Özdemir überhaupt nicht verstehen kann. Für Besmelabi ist es ein triftiger Grund, weiterzuziehen.

Auf einem winzigen Schlauchboot, in das sich elf Menschen zwängen, überquert Besmelabi die Ägäis. 3000 Euro hat er an die Schlepper bezahlt. Als der Motor streikt, paddeln sie um ihr Leben. Dazu kommt die Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Zu Fuß geht es weiter über Mazedonien und Serbien nach Ungarn. „Willkommen in Ungarn, Hände hoch”, so seien sie an der Grenze des flüchtlingsfeindlichen Staates von Grenzpolizisten mit Gewehren im Anschlag empfangen worden. Im Nachhinein kann Besmelabi über diese Szene lachen, obwohl sie für ihn schmerzhaft ausging. Mit Stahlkappen-bewehrten Stiefeln tritt ihm ein Grenzer ins Gesicht. Als die Flucht für Besmelabi am Tor zur Europäischen Union zu enden droht, springt ihm wieder ein Schlepper bei. „Ich bringe dich nach Deutschland”, sagt er und hält Wort. Das Weiterkommen ist teuer. Besmelabi zahle heute noch zurück an die Schleuser, bekundet Özdemir.

Über München und Ingolstadt taucht Besmelabi Anfang Juli 2015 bei den Aichacher Ringern auf. Er habe seinen Neuzugang zunächst nur als „mittelprächtig” eingestuft, räumt Özdemir ein. Aber alsbald nimmt er die Klasse des Afghanen wahr. „Wir brauchen einen Ringerpass für Obai”, heißt es hektisch im August 2015. Die Saison steht vor der Tür. Seither fegt Besmelabi seine Gegner von der Matte. Im Freistil, seiner Spezialdisziplin, könne er locker in der 2. Liga ringen, urteilt sein Mannschaftskamerad Tunahan Cedimoglu. Özdemir und Thurner können sich nicht erinnern, dass die Aichacher in den leichten Gewichtsklassen jemals einen derart erfolgreichen Ringer hatten wie Besmelabi. Der legt seine Kontrahenten auch eine Kategorie höher (61 Kilo) aufs Kreuz. Anfangs sei die Kommunikation schwierig gewesen, blickt Özdemir zurück. In den Kampfpausen habe er sich mit dem Übersetzungsprogramm des Smartphones behelfen müssen, was fürs Publikum ulkig ausgesehen hätte.

Seit März 2016 arbeitet Besmelabi in Vollzeit bei der Firma Decker in Aichach als Produktionshelfer. Sein Chef Erich Decker junior ist mit ihm sehr zufrieden und will ihn unbedingt behalten. Seinen Wohnsitz hat er mittlerweile in Kühbach. Am 17. Januar 2017 indes läuft Besmelabis Ausweis und damit auch seine Arbeitsgenehmigung ab. Seine Zukunft in Deutschland ist ungewisser denn je seit der Kehrtwende der Politik. Die will Afghanen zu Zehntausenden zurück an den Hindukusch schicken. Auf die Frage, ob er sich damit auseinandersetze, geht Besmelabi nicht ein. Aber man sieht ihm die Angst an, abgeschoben zu werden. Er fürchtet die Rache der Taliban. „Wenn ich zurückgehe, bringen sie mich sicher um”, sagt er und zieht demonstrativ den gestreckten Daumen quer über den Hals. Die Taliban schneiden Köpfe ab wie der Islamische Staat. „Mein Land wird nie mehr zur Ruhe kommen”, ist Besmelabi überzeugt.

Angesichts der Dringlichkeit des Falles hat der „Thurner-Papa” in nächster Zeit einige Behördengänge vor sich. In den kommenden Wochen steht für Besmelabi eine Anhörung an. Einen ersten Termin hat er verschwitzt. Peter Thurner wird mit den Aichacher Ringern um den jungen Afghanen kämpfen. Dabei sollte es weniger neben dem sportlichen vor allem um den humanitären Aspekt gehen. Für Besmelabi wird das Ringen um die Anerkennung als Asylbewerber sein bisher schwerster Kampf. Er macht kein Hehl daraus, unbedingt in Deutschland bleiben zu wollen. Besmelabi versichert, unter keinen Umständen in seine Heimat zurückzukehren. Dort warte nur der Tod auf ihn, sagt er und führt wieder den gestreckten Daumen zum Hals. „Wenn ich zurückgehe, bringen mich die Taliban sicher um” Die Firma Decker will den Afghanen unbedingt behalten Peter Thurner kümmert sich um Besmelabis Belange


Von Heribert Oberhauser
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